von Wasjuliaschreibt
Wenn ich das kleine Kind in den Kindergarten gebracht habe, gehe ich eine Runde spazieren. Ich spüre meine Schritte auf dem Asphalt des Gehsteigs. In den guten Spazierschuhen. Die Hände in den Manteltaschen, weil es noch kühl ist. Es ist die immer gleiche Runde. Vor bis zur Schneiderei, dort links, den Hügel hoch, vorbei am Second Hand Laden, wo ich immer einen Blick durchs Schaufenster werfe. Weiter zur Kreuzung, an der ich links in den großen Park biege. Ich sehe bekannte Gesichter. Heute auch den Nachbar. Wie ich spaziert er durch den Park, der sich über den Sonnenhang zieht. Wir sind uns schon öfter begegnet. Manchmal haben wir ein paar Worte gewechselt. Manchmal uns nur zugenickt.
Heute ist mir nach einem herzlichen Lächeln. Und es überrascht mich, wie herzlich das Lächeln auf der anderen Seite ist. Wie sich sein Gesicht plötzlich verändert. So ganz und gar. Wie da auf einmal eine ganz andere Persönlichkeit vor mir steht. Ich freue mich darüber.
„Guten Morgen! Wie schön, dieser Frühlingstagsanfang, nicht?“, sage ich und atme dabei tief ein. Breite die Arme aus. Lasse meine warmen Fingerspitzen die kalte Frühlingsluft spüren.
„Ja, es ist herrlich“, sagt er.
„Wollen wir gemeinsam gehen?“, frage ich.
Mit einem einvernehmlichen Nicken machen wir uns auf den Weg. Ich habe Redebedarf. Gesellschaftsbedarf. Das wird mit in dem Moment bewusst, in dem wir auf den Schotterweg einbiegen, der uns ein bisschen hügelan führt. Und dass, obwohl mein Morgen schon voller Gerede war. Mit dem großen Kind darüber, wer darüber bestimmt, was peinlich ist und wer was zu wem in welchem Ton gesagt hat. Mit dem kleinen Kind darüber, wann nun endlich das vom Osterhasen erwünschte Kuscheltier kommt. Das alles beim Anziehen, Brote schmieren, Haare bürsten, Schuhe binden. Jetzt, wo das vorbei ist, habe ich das Bedürfnis nach erwachsener Gesellschaft, die dieses Aushalten von mir aushält. Und ich ertappe mich, dass es nicht nur darum geht. Sondern dass es noch eine ganz andere Dimension hat. Eine von Bestätigung bekommen, von großartig gefunden werden wollen, von attraktiv gefunden werden wollen. Ich denke darüber nach, dass das der Punkt ist, an dem was zerbrechen kann oder schon zerbrochen ist in bestehenden Partnerschaften, in denen man sich gewohnt ist. In denen man gemeinsam funktioniert.
„Ich habe mir immer gedacht, dass mir älter werden nichts ausmacht. Dass es was Schönes ist. Das glaube ich immer noch. Und trotzdem erschrecke ich, wenn ich in den Spiegel schaue. Dass ich wirklich älter ausschaue. Dass ich irgendwie aus dem Leim gehe“, sage ich und muss dabei lachen. Bin gleichzeitig erschrocken, dass ich diesen Gedanken habe und noch mehr, dass ich ihn laut ausspreche. Vor diesem halb fremden Menschen.
„Warum erzähle ich dir das eigentlich?“, sage ich.
Er lacht. „Ich weiß es nicht. Aber es ist bei mir sicher“, sagt er und drückt kurz meine Hand.
Habe ich es darum getan? Wegen diesem Kontakt? Habe ich mir die Bestätigung gerade hergezaubert?
© Wasjuliaschreibt 2022-04-26