von Jürgen Engelmann
Noch schläft der neue Tag friedlich im Schoß der dunklen Nacht. Stille ringsum. Kein Laut durchdringt die feuchten Nebelschwaden. Tautropfen beperlte Gräser glitzern im verblassenden Licht des Mondes. Nur der Wind haucht sanft seinen lauen Atem durch die Wipfel der alten Bäume. Entspannte Ruhe. Noch ist die kleine Welt des Waldes gefangen in ihren Träumen. Dann regt sich erstes Leben. Auf nassen Zweigen bitten Vögel singend den Tag herbei. Der Specht hämmert dazu den Takt gegen den Stamm einer abgestorbenen Eiche. Langsam öffnet der neue Tag seine Augen. Noch blinzelt er verschlafen. Doch aus der Dunkelheit tauchen die ersten Bilder auf. Dann rötet sich der Horizont. Glutrot erhebt sich die Sonne und taucht die noch starre Landschaft in ihre goldene Farbe. Die ersten wärmenden Strahlen wecken nun auch den letzten Schläfer. Der Tag beginnt zu leben. An feuchten Stängeln saugen Falter die Wärme auf. Bereiten sich auf den Start vor. Die Radnetze der Kreuzspinnen verbinden an langen silbernen Fäden die dicht stehenden Bäume miteinander, als wollten sie diese nicht hergeben. Wie Diamanten glänzen die Tautropfen im Gespinst. Auch die Wildblumen am Weg öffnen ihre Blüten, um, nicht ohne Eigennutz, die Insekten zum Frühstück zu bitten. Noch atmet der Tag schwer unter der Last des Morgentaus. Doch bald hat die Sonne alle Feuchtigkeit aufgesogen. Das Rauschen der Wipfel, der Gesang der Waldvögel und das Gurgeln des Wassers im kleinen Bach vereinen sich zu einem wunderbaren natürlichen Klangkörper. Es erklingt eine Waldsinfonie, die kein Komponist der Welt so hätte schreiben können. Nur der Grünspecht fällt mit seinem lauten Lachen aus der Rolle. Hier sucht ein Eichhörnchen unter dem Laub nach Eicheln. In der Ferne schreckt ein Rehbock. In den Sonneninseln zwischen den Bäumen tanzen Mückenschwärme ihre Morgengymnastik und über allem zieht hoch oben am Himmel der Mäusebussard einsam seine Kreise. Überall Leben in Emsigkeit. Alles passt zusammen. Jede Kreatur hat ihren Raum. Es herrscht Frieden. Die Sonne steht hoch. Zeit für den Heimweg. Es gibt doch noch schöne Wälder, dachte ich in Gedanken versunken. Welten für sich, die harmonieren, die funktionieren. In denen jeder seine Aufgabe aber auch seine Rechte hat. In denen sich jeder nur das nimmt, was er zum Überleben braucht. So etwa stelle ich mir die Welt als Ganzes vor.
© Jürgen Engelmann 2020-01-30