Morsen will gelernt sein

Silvia Peiker

von Silvia Peiker

Story

Jedes Buch umgibt ein Geheimnis, und so manchem ist es gegönnt, gelüftet zu werden. So wie sich Lesehungrige Akrobaten gleich von einem mit Buchstaben geknüpften Seil zum nächsten hangeln, vertiefte ich mich in Stellenanzeigen, um meinem Wunsch, nach dem Abstecher in der Kinderbetreuung wieder im Büro in die Tasten zu hauen, ein Stückchen näherzurücken.

Auch Job-Annoncen wollen dechiffriert werden und ich musste erst nur die richtige, die auf mein Können und meine Bedürfnisse als Mutter von drei Kindern zugeschneidert war, entdecken. Heureka, wie ein Goldgräber war ich auf ein interessantes Inserat in einer bekannten Tageszeitung gestoßen, die mit teilweisem Homeoffice und einem Stundenausmaß von 18 Stunden lockte. Rasch hatte ich mein Motivationsschreiben an die Technische Universität in Wien gesandt und prompt eine Einladung zum Jobinterview erhalten.

Nachdem ich nach einer Orientierungsrunde auf dem weitläufigen Gelände das richtige Institutsgebäude entdeckt hatte, stand ich vor einer versperrten Tür und Punkte und Striche tanzten vor meinen ungläubigen Augen. Diverse Codes, von launigen Köpfen ersonnen, mussten eingegeben werden, um zur gewünschten Abteilung zu gelangen. Forsch drückte ich zweimal lang, einmal kurz, einmal lang und dreimal kurz hintereinander auf einen Klingelknopf in der Hoffnung, den Sesam-öffne-dich zu knacken. Doch nichts geschah. Nun war guter Rat teuer. So bat ich zwei Studenten, die gerade dem Lift entstiegen, um Hilfe. Lachend rieten die Witzbolde mir, es nochmals zu versuchen, da der Hausmeister der Abteilung wohl noch in Morpheus‘ Armen ruhen würde. Und siehe da, nach geglücktem zweitem Morseversuch öffnete sich die Pforte.

Der Fakultätsleiter fackelte nicht lange und zeigte mir im Labor ein Waschbecken, auf dessen Armatur ein eigenartiges Gestell in Brillenform saß. Ein Assistent drehte an den Wassergriffen und drückte gleichzeitig sein Gesicht gegen die Brille aus Metall. Sogleich plätscherte eine Wasserfontäne ins Becken und ein Teil des Strahls spritzte nach links und rechts und benetzte so das Gesicht des armen Mannes. Mit der Feststellung: “Sehen Sie, was da passiert?“ forderte der Professor mich auf, diesen seltsamen Test zu wiederholen. Etwas verdattert beugte ich mich über das Edelstahlbecken, nur um ebenso eine gehörige Gesichtswäsche zu erhalten. Sämtliche Mitarbeiter hatten sich um mich versammelt und warteten auf meine Reaktion. Ich hatte bei Interviews schon so manche schräge Frage beantworten müssen, aber was sollte diese Performance bezwecken? All meinen Mut zusammennehmend stammelte ich: „Eigentlich komme ich zum Vorstellungsgespräch …“

Nun sah ich in verdutzte Gesichter: “Ach so. Wir dachten, Sie wären die Arbeitsinspektorin!“ Um eine Erfahrung reicher, konnte ich trotz meines beherzten Einsatzes den Bürojob nicht ergattern, und so steckte ich meine Nase wieder tief in den Dschungel der Anzeigenblätter.

© Silvia Peiker 2022-11-16

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