von Lara Farla
Heute Morgen wachte ich auf und alles war anders als sonst. Meine Beine waren nicht mehr da, mein Körper fühlte sich federleicht an. Ich bin über Nacht zu einer Möwe geworden – mit glänzend weißem Gefieder. Aus meinem spitzen Schnabel kamen Schreie, aufgrund meines ungewohnten Aussehens und weil Möwen nun einmal krächzen. So startete ich also meinen Tag anstelle des Kaffees mit wilden Flügelschlägen, aufgeregten Geschnatter und unsicheren Flugversuchen.
Ich wollte zwar schon immer mal gern wissen, wie es sich anfühlte, ein Vogel zu sein und fliegen zu können. Aber ich hatte nicht im Traum daran gedacht, dass diese Phantasie einmal Wirklichkeit werden könnte. Was sollte ich jetzt nur tun? Das Fenster stand offen, ich hatte es vor dem Schlafen gehen offen gelassen. Ich nahm Anlauf und sprang unbeholfen auf das Fensterbrett. Der Himmel sah wolkig aus, der Wind wehte leicht. Ich visierte zweifelnd den nächsten Baum an. Wie um alles in der Welt sollte ich dahin gelangen? Meine Flügel ausbreitend, ließ ich den Kopf hängen und starte in die Tiefe. Wenn ich falle, dann war es das!
Einen einzigen Versuch hatte ich nur, ich musste springen oder hier in diesem Haus verhungern. Denn an den Kühlschrank kam ich nicht. Wenn ich auf die Straße gelänge, könnte ich Brotkrumen klauen oder versuchen Fische zu fangen. Das Meer lag nebenan, ich hörte es rauschen. Doch dafür müsste ich mich trauen zu fliegen.
Der Wind wurde stärker, er blies mir um den weißen Kopf. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, sagte meine Oma immer, die ihre Weisheiten gern in Sprüche verpackte. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, den ich in meinem wild pochendem kleinen Möwenherzen fand und ließ mich mit ausgebreiteten Flügeln ängstlich flatternd sinken. Der Wind war mein Komplize und trug mich davon.
Ich gewann an Vertrauen und Sicherheit und schlug meine Flügel immer ruhiger, selbstbewusster. Mein Freund trug mich bis ans Meer und es war, als ob ich nach Hause käme. Keine Wände, keine Türen, sondern die wilde Schönheit und Freiheit des Meeres begrüßte mich. Das Rauschen der Wellen war Musik, die ich in mir trug. Vielleicht war ich schon immer eine Möwe gewesen!
Ich blickte von oben auf den Strand und sah die Menschen sich sonnen. In bunte Tücher gewickelt lagen sie da und aßen, lasen in buntem Papier und gingen immer wieder ins Wasser, wohl um Fische zu suchen, die sie aber nie fanden. Recht ungeschickte Zweibeiner, dafür dass sie auch noch Hände zur Verfügung hatten. Ich hingegen hatte nur meinen Schnabel!
Der Wind frischte auf und blies mich vom Meer Richtung Stadt. Dort ließ ich mich an einem offenen Fenster nieder und schaute neugierig rein. Es sah gemütlich aus und im Bett konnte ich ein Menschenkind erkennen. Es träumte, es wäre stark und wagemutig wie ein Löwe!
© Lara Farla 2022-08-24