Muscheln, wie Sand am Meer

Daniela Neuwirth

von Daniela Neuwirth

Story

“Wohnzimmertisch – Muscheln, Esstisch – Muscheln, Fensterbank – Muscheln, Küche – Muscheln, Bad – Muscheln, Bücherregal – Muscheln“, lacht Lillys Sohn über die Kalk-Gehäuse, die sich in der Wohnung ausbreiten, wie bei Ebbe am Strand. “Ja, ich weiß. Ich brauche da einfach größere Behälter. Vielleicht in sehr hohen Vasen… “ Der Junge greift sich an die Stirn und verlässt die Wohnung Richtung Bäckerei.

Sobald es nicht mehr warm genug ist, um sich in die Fluten zu stürzen und dann im warmen, feinen Nordseestrandsand zu chillen, ist Spazieren neben dem wilden Toben des Ozeans und Muschelsammeln angesagt. Es gibt Strandabschnitte, da liegen diese winzigen Dinger bei Ebbe zu Hauff, wie in Wenningstedt oder Kampen, ebenso am Kiterstrand in Dänemark, an anderen Stellen wieder weniger. Und jedes Mal, wenn sie in die Wohnung zurückkommt, sind die Taschen voller Muscheln.

Manche sind besonders schön und groß, die landen in den geometrischen Holzschalen auf den Tischen, manche haben winzige Löcher im Gehäuse, weshalb sich diese hübsch auf die filigrane Goldkette auffädeln lassen – weiß, beige, gestromt, zwischendurch mal eine größere, flache mit Perlmuttschicht.

Demnächst wird sich Lilly beim ansässigen Juwelier über Möglichkeiten erkundigen, diese Meeresschätze – besonders die länglichen, die aber leider sehr leicht zerbrechen – mit Gold oder Silber einzufassen und zu Anhängern oder Ohrringen zu verarbeiten, als wären sie Weisheitszähne, die man nicht mehr hergeben will oder die Krokodilszähne, die ihr ihre Schwester aus Südamerika geschickt hat und nie angekommen sind.

„Wahrscheinlich hat jetzt einer der Zollbeamten die Zähne am Hals hängen“, schmunzelt sie und beschließt sicher bald selbst zu einem Besuch zur Schwester aufzubrechen, die inzwischen Spanisch und Portugiesisch spricht. „Passt ja dann, wenn man schon Isabella heißt.“ Sie sortiert die besonders großen und schön geformten Muscheln aus. An der Nordsee gibt es über 70 Muschelarten, am bekanntesten und häufigsten ist die Herzmuschel.

Rund 10.000 verschiedenen Muschelarten haben Gemeinsamkeiten: Sie sind Weichtiere und haben eine Schale, die aus zwei Klappen besteht. Viele der Arten leben bis zu 11.000 Metern Tiefe im Ozean, manche in Seen und Flüssen. Eine Ming-Muschel wurde als älteste, jemals gefundene 507 Jahre alt.

Ihr fällt wehmütig auf, wie lange sie schon nicht mehr Miesmuscheln in pikanter Weißweinsauce auf dem Teller hatte, weil man ja die Gastronomie immer wieder mit Sperr- und Öffnungszeiten geschüttelt wird. Für sie kocht keiner die Miesmuscheln besser (nämlich schön scharf), als ihr Lieblingskoch aus Togo, der in einem der Sylter Fischspezialitäten-Restaurants am kulinarischen Zaubern ist. „Wir sehen uns bald wieder“, denkt sie insgeheim und freut sich über die kommende Impfwelle, die es möglich macht, sich wieder frei zu bewegen.

© Daniela Neuwirth 2020-11-17

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