von Yvonne Ineichen
«Hast du mir drei Franken? Ich sag es grad ehrlich, brauche das Geld für ein Bier …»
Er steht leicht schwankend vor mir… Wie eine Eiche, die sanft vom Wind gewiegt wird. Eine Eiche hat kräftige Wurzeln. Die, so scheint es, hat er verloren. Einer von der Strasse, offensichtlich. Mit seinen Worten schwappt eine Alkoholfahne in mein Gesicht. Seine Augen bittend auf mich gerichtet hält er mir die offene Hand hin. Ich lege ihm einen Fünflieber hinein.
«Es ist vermutlich nicht die Lösung. Aber wenn es dir im Moment hilft, dann gerne.»
Das Leben rauscht rechts und links an uns vorbei. Während in unserer Blase drin die Zeit kurz stillsteht. Das scheint ihm aufzufallen.
Er mustert mich und meint: «Ach, wahrscheinlich bist du im Stress, danke und entschuldige die Störung.»
«Ich habe heute schon so viele Züge und Busse verpasst. Da kann ich mir den einen auch noch entgehen lassen.»
Sein Gesicht leuchtet. Worte stürzen aus seinem Mund. Binnen weniger Minuten stecke ich mittendrin in seiner Lebensgeschichte, seinem Schicksal. Es ist manchmal ein mieser Verräter. Ich stehe da, lausche ihm. Wir beide, im geschäftigen Bahnhofstreiben, eingepackt in seine Geschichtenblase. Irgendwann hat er seine Worte aufgebraucht. Schweigen. In seinem Kopf scheint es zu rotieren.
«Ich würde dich jetzt gerne umarmen. Aber wahrscheinlich stinke ich dir zu fest.»
Seine Offenheit ist erfrischend. Erreicht mein Herz in Lichtgeschwindigkeit. Ich lache innerlich schallend.
«Natürlich darfst du mich umarmen.»
Ich schliesse ihn in meine Arme. Er, der Hühne, lehnt sich an mich. Für einen kurzen Moment nur. Wir lassen uns los, er stottert: «Danke dafür.» Setzt nochmals zu einer Erklärung an, dreht sich dann aber wortlos weg und schwankt davon.
Ich bleibe stehen. Verwurzelt in diesem Moment. Solche Begegnungen berühren mich tief. Wie sehr unterscheidet sich dieses Leben von meinem? Wie sehr unterscheidet sich dieses Leben von dem, was in den Sozialen Medien gepredigt wird? «Mindset ist alles. Da wo du deinen Fokus hast, geht die Energie hin. Wie du innert Kürze reich wirst.» Es gibt viele Parolen dazu, wie man sich auf Erfolg trimmt. Dann wäre dieser Mensch offensichtlich einer, der versagt hat. Ich frage mich, warum gewisse Menschen ihr Schicksal meistern und andere auf einmal vom Leben gelebt werden. Die Antwort wird philosophisch bleiben … Doch eines weiss ich mit Sicherheit: Es steht mir in keiner Sekunde zu, diesen Menschen, den das Leben offensichtlich gebeutelt hat, zu verurteilen. Was mir aber zusteht ist, ihm mit Mitgefühl zu begegnen.
Wie oft las ich in den letzten Monaten: «Ich will Millionär/in werden, um Gutes zu tun.» Braucht es dazu die Million? Nein! Zeit, ein offenes Herz. Einem Menschen auf Augenhöhe begegnen, der das vermutlich nicht oft erlebt. Ihn mit Würde und Respekt behandeln, egal in welcher Situation er sich befindet. All das ist kostenlos. Aber ganz und gar nicht umsonst. Und es macht reich, echt!
© Yvonne Ineichen 2020-09-11