Mut sammeln

Chione

von Chione

Story

Sie hat alles vorbereitet. Sie kennt die Powerpoint-Präsentation in- und auswendig, hat jede Folie im Detail gestaltet. Den Blazer ausgewählt, um genau richtig professionell aber nicht abgehoben zu wirken. Die perfekte Begrüßung eingeübt. Ist viel zu früh losgefahren. Das lohnt sich jetzt.

Noch ist sie nicht reingegangen. Glücklicherweise ist das Gebäude direkt am Altstadtpark gelegen. Sie wirft ihre Locken über die Schulter und geht noch etwas schneller. Sie wird es schaffen, sie wird sie umhauen. Sind die Perlen zu viel? Nein. Sie läuft am märchenhaften Springbrunnen vorbei und ist sich sicher: Am Outfit wird es nicht liegen. Aber vielleicht am Projekt selbst? Die Präsentation kann ja schließlich keine wirklichen Mängel verstecken. Nicht, wenn das Publikum Ahnung hat. Und das hat es: Sie respektiert das Team sehr, sonst wäre sie nicht hergekommen. Es wäre so wichtig, es heute zu schaffen. Da steht eine Ruine. Oder eher eine Mauer. Auf ihr wächst Efeu. Nein, das stimmt nicht. Es ist Wein. Nicht ganz das gleiche, aber ein ähnlicher Effekt. Und doch: Das Schloss im Märchen ist definitiv mit Efeu zugewachsen. Sie kann sich zwar nicht erklären, warum, doch so viel weiß sie sicher. Was, wenn sie sich auch nicht erklären können wird, warum ihre Präsentation versagt hat? Sie hat das Eingangstor verpasst. Nicht schlimm, sie hat auch noch genug Zeit für eine weitere Runde. Allerdings merkt sie jetzt, dass ihre Schuhe für Schotter nicht gemacht sind. Das merkt sie sich fürs nächste Mal: flache Schuhe sind praktischer, wenn du sowieso noch etwas Zeit mitbringst. Größer wirken kannst du auch so. Aber jetzt müssen die eben gehen. Sie wird langsamer, ruhiger. Es scheint, dass sie etwas ihrer nervösen Energie losgeworden ist. Dieses Mal geht sie am Springbrunnen links, um die Ruine mit dem existenziellen Wein zu vermeiden. Auf diesem Weg gibt es einen Ententeich. Bei dem Anblick überkommt sie gleich eine neue Welle der Ruhe. Sie liebt Tiere, besonders jetzt. Und Teiche. Die Enten schwimmen auf der Oberfläche vor sich hin, tauchen nach Fischen und erinnern sie an Kinderlieder. Manchmal können Dinge auch einfach sein. Für Enten und für Grundschüler, die sich beide keine unnötigen Gedanken über noch nicht geschehene Fehler und Missverständnisse machen und einfach das tun, von dem sie überzeugt sind. Sie ist überzeugt von ihrer Idee. Sie kann das. Da ist das Tor. Sie nähert sich. Beim Aufmachen quietscht das alte Metall. Schon sieht sie das Gebäude wieder. Sie ist perfekte fünf Minuten zu früh.

“Ihre Sekretärin war schon sehr begeistert. Das ist gleich ein gutes Zeichen! Wir freuen uns wirklich auf die Zusammenarbeit.” Händeschütteln. Immer noch Ungläubigkeit ihrerseits. Komplimente für die Struktur des Vortrags. Sogar ein Dank für ihr Kommen. Aber vor allem: Die Zusage.

Vielleicht hat sie mit der Sekretärin etwas übertrieben. Aber das ist jetzt egal: Sie kann wirklich ihr Projekt verwirklichen. Das muss sie gleich den Enten sagen.

© Chione 2022-08-31

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