von HelMar
Ich war ein verträumtes Kind und gerne alleine. Während der Sommerschulferien entdeckte ich am leicht ansteigenden Waldesrand ein hübsches Plätzchen, an dem ich mich täglich mit einer kratzenden Decke und einer alten Aktentasche, in der ich eine Flasche Wasser und ein Buch mitführte, für ein paar Stunden niederließ. Ich erinnere mich heute noch an eine ganz besondere Note des Duftes, den der Wald am frühen Vormittag ausströmte. Es war, wie ich später herausfand, wilder Thymian, der an diesem sonnigen Ort besonders üppig gedeihte. Von diesem gewählten Stammplätzchen aus hatte ich einen guten Ausblick auf die Ortschaft und auf den darüber liegenden Berg mit seiner neugotischen Kirche. Bei aller Liebe zur Natur und dem lieblichen Bild, das sich mir Tag für Tag bot, sie waren nicht der einzige Grund, warum ich mich täglich an den duftenden Waldrand begab bis die Sonne schon hochstand, die Taglöhner von den angrenzenden Äckern verschwanden, und ich wusste, dass ich mich beeilen musste, um rechtzeitig zum Mittagessen zu Hause zu sein. Eine Uhr besaß ich nicht, die bekam man damals erst zur Firmung.
Von der Ferne hörte ich ein leises rhythmisches Rattern, das immer mehr anschwoll, dann ein mehrmaliges Pfeifen, und vorbeizog der erste von mehreren täglichen Güterzügen, welche die Braunkohle aus dem nahegelegenen Abbaugebiet beförderten. Mir schien die Kette der Waggons nicht endenwollend. Aber das wirkliche Abenteuer für mich begann, wenn die Lokomotive ihre zischende Rauchwolke mit großer Gewalt und viel Geräusch in den Himmel versenkte. Die Sonne stand da immer noch tief genug, um vom Rauch so vollkommen erfasst zu werden, dass sich der Himmel eine kleine Ewigkeit lang verdunkelte.
Der Schulbeginn bereitete diesem täglichen Spektakel ein jähes Ende. Als ich dann aus dem Dorf wegzog und nach langer Abwesenheit wieder dort zurückkehrte, eilte ich an meinen einstigen Sehnsuchtsort am Waldesrand. Ich wurde nicht enttäuscht, der wilde Thymian duftete wie damals. Vieles hatte sich jedoch verändert. So zählte ich jetzt viele rote Hausdächer. Man zog nun vermehrt von der Stadt aufs Land. Oder hatte dort einen Zweitwohnsitz. Zersiedelung hatte sich breitgemacht. Der einst kleine Bahnhof war jetzt überdimensional und hochmodern, als würde er auf etwas warten. Die altehrwürdigen Funken und Asche speienden Lokomotiven gab es nicht mehr, Dieselloks hatten diese inzwischen ersetzt.
Man machte sich Gedanken über die Umwelt und, wie von höherer Gewalt gesteuert, erwies sich der Braunkohlenabbau zur rechten Zeit als nicht mehr rentabel. Nun sprechen alle Anzeichen für eine Elektrifizierung der Bahnstrecke. Und so wird das scheinbar harmlose Kapitel meiner Kindheit zur metaphorischen Erinnerung daran, dass Romantik nicht vor Umweltschutz zu gehen hat. Was bleibt ist die Hoffnung, der wilde Thymian möge auch weiterhin seinen Duft verströmen, wie einst und jetzt, als Dank von Mutter Erde.
© HelMar 2021-05-25