Mit meiner Omi hatte ich zu viel Zeit, und zu wenig. Über sie weiß ich mit am meisten aus meiner Familie, und doch kaum etwas wirklich Wichtiges. Sie wurde 1948 als älteste von vier Schwestern und einen Halbbruder in Berlin geboren, kümmerte sich mit um die Erziehung ihrer Geschwister, wurde vom Stiefvater geschlagen, hat gesehen, wie er ihre Mutter schlug. „Das war ein Arschloch“, hat sie gesagt. Ich glaube ihr. Ohnehin habe ich ihr Vieles in meiner Kindheit geglaubt, war zu blind, um zu sehen, dass sie manche Dinge einfach mit ihrem Omi-Lächeln verdeckte. Aber das war wohl ok, denn ich war die Enkelin. Ich war Lisamaus, Purzel, meine Kleine und meistens Lisi. Dafür rief ich sie früher Urmel – weil ich das Urmel als Kind richtig cool fand, und meine Omi einen coolen Titel verdient hatte – und meistens eben einfach Omi; nicht Oma – der Titel war für meine unliebsame Oma Doris bestimmt. Nein, Omi überhäufte mich mit Aufmerksamkeit und Geschenken und Zeit und Liebe. Sie gab das typische Bild einer deutschen Omi ab – zumindest in meinem Kopf: stets durch Lockenwickler – die immer fein mit der Haube getrocknet wurden – gewelltes Haar, adrett geschminkt, sie liebte das Backen (für meine Mutter machte sie früher immer nur Käsekuchen, für mich alles Vorstellbare, was meine Mutter ihr heute noch scherzhaft vorhält), kochte Hausmannskost (die gute Sülze und die Bratheringe zu Weihnachten waren ihre Aufgabe), sie zog ihre Kumpel beim Kartenspielen ab, sie trank gern Bier und hatte einen schrecklichen Modegeschmack (auch wenn sie jetzt sicherlich vehement kontern würde, dass meiner viel schlimmer ist und ich ja keine Ahnung habe).
Ja, meine Omi war ein sehr spezieller Mensch mit einem glücklicherweise auch nur einmaligen Charakter. Meine Freunde nennen mich scherzhaft eine „Dampfwalze“; ich überrolle Menschen heillos mit meinem Redefluss. Doch dann war meine Omi ein siebenhundertvierzig Meter langer Güterzug mit voller Geschwindigkeit. Wenn er dich erwischt, weißt du nicht, wie dir geschieht. Sie jedenfalls hatte ein Talent dafür plump, direkt und charmant gleichzeitig zu sein – und das zwar ohne Berliner Dialekt, aber dafür mit Berliner Schnauze. Sie war so ein besonderer Mensch in meinem Leben, dass ich ohne zu zögern mit 12 Jahren gesagt habe, dass ich zu ihr ziehe. Ich suchte mir das Gymnasium bei ihr um die Ecke aus, weil mir die in Bernau und Umgebung überhaupt nicht gefielen – und ich erst recht keine Lust hatte, alten Klassenkameraden aus der Grundschule noch weitere Jahre zu begegnen. Meine Eltern wussten gar nicht, wie ihnen geschah, als ich ihnen mitteilte, dass ich mir mit Omi die Schule angesehen, für gut befunden und einen Termin mit der Schulleiterin ausgemacht hatte. „Bist du dir wirklich sicher, dass du zu Omi ziehen willst“, hatte meine Mutter mich gefragt. „Ja, das ist doch voll cool, bei Omi zu wohnen“, antwortete ich. Wie heißt es so schön in einem bekannten Disneyfilm: Mutter weiß mehr – meine sowieso.
© Lisa-Marie Pohlmann 2022-11-19