von Judith Lahfeld
Ich bin aufgewachsen auf 128 Quadratmeter. Berliner Altbau mit Hinterhof. Noch heute erinnere ich mich gern daran. An die Hausgemeinschaft. Studenten, Hunde, Kinder. Alle immer irgendwie zusammen. Offene Türen und jeder willkommen. Plaste und Elaste-Partys bei der Nachbarin. Hof-Feste und Versteckspiel in der Altbauruine nebenan. Wir hatten in unserer Küche einen alten Dienstboteneingang. Der führte von der Wohnung direkt nach oben auf den Dachboden, wo ein kleines Extrazimmer war. Irgendwie habe ich mich immer vor dieser Treppe gegruselt und hätte schwören können, da wohnt die böse Version von Karlsson vom Dach.
Ich habe dann noch lange in Berlin gewohnt. Ganze 32 Jahre lang. Mit 16 haben wir Cuba Libre im King Kong Club getrunken und tagelang im Proberaum verbracht. Mit 24 habe ich mit meiner besten Freundin im Spindler und Klatt getanzt und am Spreeufer gesessen. Der Tannhäuser war selbst mir zu viel Kultur aber als ich mit meinen Eltern die Carmina Burana in der Philharmonie hörte, tanzte mein Herz vor Glück. Die Leute, die kein gutes Wort für dich übrig haben, liebes Berlin, kennen dich nicht. Haben nie deinen Puls gefühlt. Sind vielleicht eingestaubte Kulturbanausen. Oder waren in den falschen Ecken. Glänzen mit Halbwissen, wie gefährlich hier alles sei. Die Bandidos schießen vielleicht mit scharfen Geschützen aber nicht die Rocker mit den langen Bärten und den sanften Augen. Das sind nämlich die liebsten Kerle mit den größten Herzen. So wie mein Papa. Der ist nicht nur Rocker, sondern auch Seefahrer und sorgt immer dafür, dass wir im Leben eine Handbreit Wasser unterm Kiel haben.
Raus aus der Stadt ging es dann vor allem zuliebe meines Mannes, der vom eigenen Garten träumte. Auf der Suche nach einem Stück seiner eigenen Kindheit. Und weil ich selbst Mutter wurde. Für die Mutterrolle hatte ich die beste Lehrerin denn ich wurde von der stärksten Frau aufgezogen, die ich kenne. Ich habe schon immer zu dir aufgeschaut. Danke Mama.
Mit viel Wehmut und einem weinenden Auge verabschiedete ich mich. Von hohen Decken und Altbaucharme. Für unser Kind, weniger Smog und ein paar mehr Bienen und Blumen. Vielleicht können diese Berlinliebe nur diejenigen verstehen, die bei ihrer Geburt nicht von einem Engel, sondern von der Berliner Goldelse geküsst wurden. Menschen, die diesen ganz besonderen Storchenbiss im Herzen tragen.
Multikulturelle Liebeshymnen, überall in jeder Ecke. Mit meinem Bruder bei libanesischem Essen über Träume sprechen. In vielen Sprachen und mit Menschen in allen Farben. Nun sitze ich hier in der Vorstadt mit Haus und zwei Kindern. Irgendwie fühlt sich das auch richtig an. Meistens zumindest. Oft vermisse ich die Cafés, das Getümmel und die U2, die mich zuverlässig überall hin brachte. Dafür gibt es nun Kaffee aus dem Vollautomaten und Gemüse aus dem eigenen Garten. Auch schön. Alles hat seine Zeit.
In meinen Lungen ist immer noch Berliner Luft. Und vielleicht auch noch ein bisschen in meiner Leber.
© Judith Lahfeld 2022-08-07