Muttersprache

ratz

von ratz

Story

Die Sprache meiner Mutter ist untergegangen.

Weil sie aus dem Sudetenland stammte. Weil das Sudetenland 1938 dem Deutschen Reich zugeschlagen wurde, weil die Sudetendeutschen Hitler begeistert empfangen hatten und sie nach dem Ende des Krieges dafür bezahlen mussten und der größte Teil von ihnen von dort vertrieben wurde, wo sie und ihre Vorfahren seit Jahrhunderten gelebt hatten.

Es ist ja auch eigentlich keine Sprache, sondern ein Dialekt, dessen Färbung und Ausdrucksweise im Reden meiner Oma noch mehr durchklang als in dem meiner Mutter. Ein Dialekt, der mir schon als Kind peinlich war, zeigte er doch, dass wir anders waren als die Menschen um uns herum mit ihrem dunklen Bayerisch, das mir immer gefiel. Anders auch als die “Zugereisten”, die aus dem deutschen Norden nach Bayern eingewandert waren. Deren Deutsch hörte sich ernstzunehmender an als der Dialekt meiner Mutter und meiner Großmutter mit plattgedrückten Wörtern wie zum Beispiel Adapfl für Erdäpfel (Kartoffeln) und immer wieder diesesm “No” und “Jessas”. Ich schämte mich umso mehr, je älter ich wurde, je mehr ich vom Leben außerhalb meiner Familie begriff, Nachrichten hörte, mich für Politik interessierte, erfuhr, dass die Vertreter der sudetendeutschen Vertriebenenverbände die Rückgabe der Gebiete forderten, aus denen sie vertrieben worden waren. Damit wollte ich nichts zu tun haben. Ich wollte keine von denen sein, wollte nichts mit ihrer Sprache zu tun haben, und auch vom Leid der Vertriebenen, also dem meiner Mutter und meiner Großmutter, wollte ich lange nichts wissen. Es erschien mir als der Preis, den sie als Deutsche zu zahlen hatten für das viel größere Leid, das unser Land so vielen Anderen vorher zugefügt hatte. Viel später habe ich erst begriffen, dass die Rechnung so nicht aufgeht. Dass der Schmerz über den Verlust der Heimat (und des Ehemanns und Vaters) das Leben der Betroffenen gezeichnet hat, unabhängig von kollektiver oder individueller Schuld.

Irgendwann wanderte ich selbst in den Norden aus, war jetzt umgeben von Menschen, die das richtige Deutsch sprachen. Verloren gegangen war dabei nicht nur die spezielle Farbe des Sudetendeutschen, sondern auch die Begriffe in der Sprache meiner Mutter, die aus der langen Verbundenheit mit der Donau-Monarchie stammten. Ausdrücke wie: Ich habe mich darauf erinnert, ich habe darauf gesehen. Und all die schönen Wörter, die etwas Essbares bezeichnen: Ribiseln, Karfiol, Kukuruz, Krautfleckeln. Und Deka und heuer und Jenner.

Auch deshalb bewege ich mich gerne im Story.one-Kosmos, weil alle diese Ausdrücke und Wörter da herumfliegen und mir immer mal wieder begegnen und mich dabei etwas Altes anweht und weil es mir heute dabei warm wird.

© ratz 2023-03-05

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