von Georgi Petkov
Drei Uhr nachts. Züricher Hauptbahnhof. Gleis 41. Zug nach Hause. Unten oder oben sitzen? Ich setzte mich ins Zwischenstockwerk. Zwei freie Viererabteile. Die Türen blieben geöffnet während der Zug noch hielt. Zwei jugendliche Mädchen setzten sich ins andere Viererabteil. Offensichtlich ziemlich besoffen. Die Warnlampe blinkte rot bevor sich die Türen schlossen. Ein Mann, Ende zwanzig oder Anfang dreißig, olivgrüne Cargohose, Militärmusterhoodie und eine schwarze Weste darüber, Snapback nach hinten gedreht, hielt die Tür auf. Eine zweite Person kam ganz gediegen in den Zug getorkelt. Schwarzer Kapuzenpulli, Kapuze auf dem Kopf, ein Aufdruck vor irgendeiner Band am Rücken und enge, etwas kaputte, dunkelgraue Jeans. Beide hatten in der einen Hand ein Holzlöffelchen und in der anderen einen knallroten Pappbecher voll mit Sahneeis. Der Mann rannte, begleitet von relativ lauter Technomusik, die Treppe hoch, hielt abrupt und setzte sich in einem Ruck auf den Sitz links von der Treppe. Die zweite Person, unklar, ob Mann oder Frau aufgrund der vielen Falten im abgemagerten Gesicht, einer geschlechts- und formlosen Kurzhaarfrisur und einer Stimme, so rau und heiser wie ein altes Mofa, schliff ihre Beine entlang der Stufen und plumpste auf den Sitz gegenüber dem Mann. Dieser zappelte mit seinem Fuß im doppelten Rhythmus der Technomusik und schoss Löffel für Löffel von dem Eis in seinen Mund, während seine Begleitung in der Zwischenzeit nur einen Löffel Eis gegessen hatte und sich eher darauf konzentrierte nicht wie eine Scheibe nasses Brot auf den Boden zu klatschen. Die Augen des Mannes wanderten in einer unglaublichen Geschwindigkeit durch den Zug, der mittlerweile schon abgefahren war. Plötzlich bemerkte er etwas vom anderen Ende des Wagens und durchbohrte fast seine Lautsprecher, um die Musik auszuschalten. Ein Sicherheitsbeamter lief kontrollierend durch und begab sich in den nächsten Wagen. Der Mann packte nur im Bruchteil einer Sekunde seinen Mittelfinger aus, streckte ihn dem Rücken des Beamten empor, griff wieder zum Holzlöffelchen und ließ die Musik weiterlaufen. Wahrscheinlich hatte er irgendeine aufputschende Droge intus und bei seiner Begleitperson traf wohl eher das Gegenteil zu. Diese rührte sich kaum noch und war schon stark nach vorne geklappt. Da fragte der Mann sie so schnell, ob es ihr gut ginge, dass ich es erst im Nachhinein verstand. Als Antwort bekam er ein raues Stöhnen, wie von einem verkaterten Rockstar nach seiner Konzerttour. Hieß wohl ja, denn er genoss weiterhin sein Eis und die Musik. Da beschloss eines der Mädchen neben mir, sich mit ihm zu unterhalten, wobei ihre Freundin versuchte sie davon abzuhalten. Der Pegel, den beide an den Tag legten, sorgte dafür, dass sie unkontrolliert lachten, was die ganze Situation verharmloste. Als sie sich dann alleine neben den Mann setzte, fing sie sehr langsam an Smalltalk mit ihm zu führen. Er musste jede seiner Antworten etwa dreimal wiederholen, war dabei immer noch schneller als das Mädchen, bis sie ihn verstand. Dann ging es um ihr Alter. Sie war sechzehn. Er fragte sie erneut einige Male, ob sie Kurt Cobain, Nirvana oder Pink Floyd kenne, sie fragte, wer das sei, er war aber schon empört noch bevor sie diese Frage gestellt hatte. Dann fragte sie ihn wer seine Begleitung war, er antwortete zurückgelehnt, mit aufgerissenen Augen und in voller Selbstverständlichkeit, dass dies seine Freundin sei. Dreimal. Endlich hielt der Zug an.
© Georgi Petkov 2023-08-31