Ich weiß nicht, wie spät es ist. Die Uhr tickt nicht, schon lange nicht mehr, und mein Körper hat aufgehört, sich an Zeit zu orientieren. Es ist Licht im Raum – nicht das grelle, beißende Licht des Morgens, das zu viel verlangt –, sondern dieses flache, warme, das kommt, wenn der Tag sich langsam verabschiedet, ohne Lärm, ohne Forderung.
Ich sitze nicht. Ich liege nicht. Irgendetwas dazwischen. Mein Rücken lehnt an der Wand, meine Beine ausgestreckt, als wollten sie irgendwohin, wüssten aber nicht, wohin. Es ist ruhig, aber nicht leer. Die Welt hat für einen Moment aufgehört zu dröhnen, und jetzt füllt sich die Stille mit dem, was der Regen zurückgelassen hat.
Die Luft riecht nach nassem Asphalt und Erde. Nicht unangenehm – eher wie eine Erinnerung, die man plötzlich auf der Zunge schmeckt. Es ist ein Geruch, der nach draußen gehört, und doch schleicht er sich durch das gekippte Fenster in meine Wohnung, wie ein Gedanke, der nicht eingeladen war, aber trotzdem willkommen ist. Ich habe die Rollläden ein Stück hochgezogen. Nicht viel – gerade so, dass ein Streifen Himmel durchpasst. Vielleicht habe ich gehofft, nichts zu sehen. Aber jetzt ist da dieser Sonnenuntergang. Er ist nicht dramatisch. Kein feuriges Spektakel. Kein Klischee. Eher ein Leuchten, das sich in den Himmel legt wie eine Decke, dünn und warm. Orange, Gold, etwas Rosa. Wie verwischte Kreide auf rauem Papier. Die Wolken ziehen langsam. Fast ehrfürchtig. Und ich schaue zu.
Zum ersten Mal seit Tagen – oder Wochen? – sehe ich etwas, das nicht in mir liegt. Etwas, das nicht schwer ist. Etwas, das einfach nur ist. Die Sonne versinkt hinter den Häusern, aber ihr Licht bleibt noch eine Weile. Es kriecht die Wände hoch, legt sich auf das Staubkorn auf meiner Fensterbank, auf meine Zehen, auf meine Stirn. Es streichelt nicht – es erinnert. Der Geruch des Regens ist süßlich, fast ein wenig metallisch. Er macht etwas mit meiner Erinnerung, öffnet Türen, von denen ich dachte, sie seien längst verschlossen. Ich sehe mich als Kind in Gummistiefeln. Wie ich mit nassen Haaren durchs Gras renne. Wie ich mich in einer Pfütze spiegele und das Lächeln nicht hinterfrage. Es tut nicht weh, daran zu denken. Es ist eher wie ein Licht in einem Raum, den ich vergessen hatte.
Ich bin noch immer müde. Noch immer schwer. Aber etwas in mir hat sich bewegt. Nicht viel. Vielleicht nur ein einzelner Gedanke. Vielleicht nur ein Muskel unter der Haut. Ich strecke die Hand aus, als könnte ich das Licht fangen. Meine Finger sehen blass aus in diesem Glühen, durchscheinend fast, als gehörten sie nicht ganz zu mir. Aber sie bewegen sich. Langsam. Und das reicht.
Ein einzelner Tropfen löst sich vom Fensterrand. Er fällt nicht. Er rollt. Zögernd, tastend, wie ich. Dann verschwindet er, lautlos. Ich weiß nicht, ob morgen anders wird. Ich weiß nicht einmal, ob heute zu Ende gehen wird, bevor ich es wieder verliere. Aber ich habe den Himmel gesehen. Ich habe den Regen gerochen. Ich war da. Und das ist mehr, als ich gestern war.
© Klara-Maria Breitenstein 2025-04-23