Nach Sternen greifen

Nikita Lindt

von Nikita Lindt

Story

Wir Menschen sind fürchterlich schlecht, was den Umgang mit dem Tod angeht. Der Tod, das sterben, was eigentlich solch ein banales, aber gleichzeitig besonderes Ereignis ist. Werden wir es jemals richtig verstehen können? Auch diese Frage hatte mir Carmen gestellt. Was bedeutet es eigentlich zu sterben? Nun stehe ich hier in der kühlen Nacht nach dem Regen, während die letzten Tropfen auf dem Asphalt versickern und an den Wänden kleben bleiben. Als ich und Carmen im Krankenhaus noch gemeinsam Zeit verbracht hatten, war, die Sterne zu beobachten, auf dem Dach des Gebäudes unser Ritual gewesen. Jede Nacht. Wir haben uns vorgestellt, nach den Sternen greifen zu können, wie mit der Hand die leuchtenden Diamanten zu fangen, wie die fallenden Schneeflocken zu streifen. Nun blieb mir nichts anderes übrig, als tief einzuatmen und meine Augen zu zukneifen. Noch durfte ich nicht aufgeben, ich musste alles probieren, was ich nie probiert hatte. Am liebsten hätte ich es mit meinen Freunden getan – doch diese hatten zu sehr Angst. Angst, meinen Namen zu nennen. Angst, den Namen der Krankheit zu nennen. Sie hatten mich verneint, mein Leben und meinen Tod. Einige Freunde waren verschreckt vor der Trauer, verängstigt vom Tod. Somit versuchten sie mich zu meiden, als wäre ich eine Infektion, ein Parasit. Nur Bella nicht. Sie blieb an meiner Seite, unterstützte mich, egal wie verrückt auch meine Ideen sind. So wie wir jetzt auf dem Dach des Krankenhauses stehen, die Sterne über uns, und selber kleine Heißluftballons bastellten. Ich hatte ein kleines Feuer in einem Kessel entfacht, die Wärme strömte in die selbst gemachten Ballons aus Papier und eine kleine Kerze drinnen, ließ sie noch weiter den Sternen entgegenfliegen. „Sieht das nicht wunderschön aus? Das ist so wunderbar!“, lachte ich und klatschte in die Hände, während Bella weitere Kerzen anzündete, wobei sie darauf achtete, dass nichts anbrannte. „Wir sind sowas von erledigt, wenn uns irgendjemand hier oben erwischt“, erwiderte meine beste Freundin streng, doch ich sah, wie ihre Augen weich wurden. „Ach, komm schon Bella, ich nehme die volle Verantwortung auf mich!“, ich ließ einen weiteren Ballon fliegen und blickte ihm hinterher. Es war wie, einen kleinen tanzenden Stern zu seinen Freunden nach oben zu lassen. Eine zitternde Flamme, die sich zumindest für einen kurzen Moment wie ein Stern fühlen konnte. „Aber… du hast recht, es sieht wirklich schön aus“, stimme Bella hinzu, während sie mir die Haare aus dem Gesicht fischte. „Hast du deine Medikamente genommen?“, sie legte den Kopf schief. „Ja habe ich. Wir haben uns doch entschieden zu kämpfen. So leicht gebe ich nicht auf“, ein Grinsen breitete sich über meine Lippen. „Gut, denn ich werde nicht zulassen, dass der Tod dich so einfach ohne weiteres bekommt“, das Mädchen in der blauen Jeans und weißen T-Shirt umarmte mich herzlich. „Auf gar keinen Fall, das wäre zu einfach“, nickte ich lachend. Gleichzeitig dachte ich an Carmen. An ihre Worte. Daran, dass sie nie ihr zweites Leben akzeptieren würde. Denn sie hätte den Unfall nicht überleben sollen. Und dennoch lebte sie. Der Tod hatte ihr eine zweite Chance gegeben, doch das Mädchen verabscheute es. Ich hatte vom Tod keine zweite Chance bekommen. Innerlich wünschte ich mir – ein schrecklicher Gedanke – ich hätte diese zweite Chance, dieses zweite Leben geschenkt bekommen können. Nicht Carmen – sondern ich. Carmen wollte sterben – ich leben. Was für eine Ironie, nicht wahr?

© Nikita Lindt 2025-07-05

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Herausfordernd, Emotional, Hoffnungsvoll, Inspirierend, Reflektierend
Hashtags