von Elisabeth Otto
Wie viele Leute braucht es, um ein Kind zu erziehen? Ein ganzes Dorf! So heißt es in einem Sprichwort und auf meinen Heimatort trifft das hundertprozentig zu.
Rückblickend bin ich froh, dort aufgewachsen zu sein, umgeben von jeder Menge Wald, Natur – und wachsamen Nachbarn. Als Kind konnten wir riesige Schneehöhlen bauen, in Flüssen und kleinen Teichen baden oder auf Bäume klettern. Niemand konnte verloren gehen oder sich verlaufen – die Nachbarn kannten alles und jeden und hatten immer ein Auge auf die anderen. Ob das nun gut oder schlecht ist, muss jeder für sich entscheiden.
Einmal kam ich von der Schule nach Hause, hatte meinen Schlüssel vergessen und stand vor verschlossener Tür. Meine Mutter musste arbeiten und ausnahmsweise war sogar auch meine Oma unterwegs. Es war kalt und regnerisch. Unsere Nachbarin sah mich zufällig vor dem Haus stehen und fragte mich, was los sei. Nachdem ich ihr die Situation erklärt hatte, bot sie mir umgehend ein Mittagessen an und bestand darauf, bei ihr zu Hause auf die Rückkehr meiner Oma zu warten. So musste ich nicht in der Kälte ausharren und frieren. An diesem Tag war ich dankbar darüber, so wachsame Mitmenschen zu haben.
War unser Kater für längere Zeit verschwunden und in der Nachbarschaft ein paar Tage nicht gesichtet worden, befand sich sofort das gesamte Umfeld in Alarmbereitschaft.
Außerdem hatte fast jeder der älteren Einwohner einen Spitznamen. Oft wurde auch nur dieser verwendet, sodass ich mitunter bis heute nicht genau weiß, wie der richtige Name der jeweiligen Person lautet. Doch je älter ich wurde, umso kleiner und beengter wurde auch das Dorf für mich. Lange Zeit wusste ich zwar nicht, was ich machen und wo ich leben wollte, doch eins war mir bereits relativ früh klar: Meine Zukunft sah ich nicht in meinem Heimatort und der unmittelbaren Umgebung. Ich wollte mich weiterentwickeln, andere Menschen kennenlernen und auch die Möglichkeit haben, Freizeitangebote und größere Städte auf kurzen Wegen erreichen zu können. Meinen Dialekt konnte ich jedoch nie ganz ablegen. Noch heute werde ich ab und zu gefragt: „Du bist aber nicht von hier, oder? Du kommst doch aus dem Wald?“ „Nein, ich komme nicht AUS dem Wald“, erwidere ich dann. „Ich komme aus einem Dorf im Wald und bin auch mit Strom und warmen Wasser aufgewachsen.“
Noch vor einigen Jahren wäre ich überallhin gezogen, sogar ins Ausland. Inzwischen bin ich sogar ein bisschen froh darüber, dass mich das Schicksal nicht ganz so weit weg verschlagen hat. Ich komme gerne zu Besuch, mag die Natur und die kauzigen Menschen. Immer, wenn ich an den Orten meiner Kindheit vorbeilaufe, überkommt mich ein Gefühl von Nostalgie. Dann plötzlich bin ich genauso erleichtert, wenn ich wieder gehen kann, um woanders ein eigenes Leben zu führen. Ohne den Ort im Wald wäre ich sicherlich ein anderer Mensch und hätte so manche Personen heute nicht in meinem Leben. Man kriegt eben das Mädchen aus dem Dorf heraus, aber das Dorf nicht aus dem Mädchen.
© Elisabeth Otto 2024-10-30