von Elke R. Richter
Der letzte Klang der alten Standuhr hinter mir verhallt ‒ sechs Uhr. Seit einer Stunde sitze ich an dem massiven Eichenschreibtisch meines Onkels Theodor vor einem leeren Blatt Papier. Jetzt blicke ich auf und schaue aus dem Fenster. Mein Blick fällt auf die gegenüberliegende Terrasse am Teich. Die wuchernden Seerosen haben sich ausgebreitet. Eine Amsel sitzt auf dem Spalier neben dem Fenster und singt. Kurz darauf verschwindet sie zwischen den Blättern der Clematis, die sich an dem Holzgerüst hochrankt. Schon oft habe ich sie beobachtet und ihrem Gesang gelauscht. Wahrscheinlich nistet sie dort wieder.
Onkel Theodor schaukelt in seinem geliebten Gartenstuhl und raucht seine Pfeife. Sein nach allen Seiten hin abstehendes weißes Haar wird von den Blattrispen eines mächtigen Osterkaktus eingerahmt. Die himbeerroten Blüten erzittern durch einen Windhauch. Leo, eine Husky-Collie-Mischung, hatte vorhin in einem umgegrabenen Beet geschnüffelt. Jetzt hat er seine Schnauze auf die Füße meines Onkels gelegt und die Augen geschlossen.
Der Himmel verdunkelt sich. Hoffentlich regnet es nicht so wie gestern. Da hatte es einen fürchterlichen Wolkenbruch gegeben, dass der Teich fast über die Ufer trat und die Fische sich in der Mitte drängten.
Im Zimmer über mir höre ich Schritte. Ob mein Cousin Bruno anfängt zu üben? Er spielt im Sinfonieorchester. Zurzeit steht ein Flötenkonzert von Mozart auf dem Plan. Wenn ich die Musik höre, sehe ich immer das Bild von Adolf Menzel vor mir, auf dem Friedrich der Große die Querflöte spielt.
Wir sind schon eine merkwürdige Familie, denke ich. Onkel Theodor ruht sich den ganzen Tag aus. Er ist Rentner und hat schließlich sein Leben lang gearbeitet. Tante Amalie war zwar auch ständig beschäftigt, aber jemand muss sich um den Haushalt kümmern. Cousin Bruno spielt immerhin im Orchester, doch beim letzten Konzert durfte er wegen einer Covid-19-Erkrankung nicht mitspielen. So übt er zu Hause und schläft viel.
Und ich? Ich greife nach meinem Käsebrot und überlege, was ich über meine Erlebnisse in Ägypten schreiben könnte.
© Elke R. Richter 2022-03-26