von Victoria
Ich durfte ein Jahr bei meiner Tante und meinem Onkel in Linz wohnen, während ich hier eine Ausbildung absolvierte. Da ihre 3 mittlerweile erwachsenen Töchter bereits ausgezogen waren, konnte ich deren Kinderzimmer in Beschlag nehmen, das sie sich in ihrer Kindheit zu dritt geteilt hatten.
Meine Tante und mein Onkel sind sehr arm aufgewachsen, wie die meisten Leute, die vor oder während der Kriegszeit auf die Welt kamen. Doch sie lebten unverdrossen ihr Leben und mit Fleiß und Zusammenhalt und auch sehr viel Humor meisterten sie dieses gemeinsam. Dass sie ihre Töchter mit viel Liebe erzogen haben, erkennt man daran, dass die Familie bis heute zusammenhält und einer für den anderen da ist.
Meine Tante, die sich stets in bester geistiger Verfassung befand und für mich 30 Jahre lang immer gleich aussah, bekam mit 80 einen Tumor, ab da ging es sehr schnell abwärts mit ihrer Kraft. Es war ihr bewusst, dass es mit ihr zu Ende geht, doch sogar in dieser schweren Zeit blieben ihre Gedanken bei den Mitmenschen. Sie überlegte noch, dass sie meinem Sohn eine Fischerweste schenken könnte, die ihr Mann nicht mehr nutzte. Sie konnte sich von ihrer Familie in Würde verabschieden und fragte den Arzt, wie es sei, sterben zu müssen. Ich denke, selbst der beste Arzt kann das nicht zufriedenstellend beantworten.
Mein Onkel lebte von nun an allein in der Wohnung und blieb bis ins hohe Alter selbstständig. Als er nicht mehr ganz so rüstig war, ließ er sich Essen auf Rädern kommen und eine Pflegerin half ihm seine Beine zu bandagieren, da er dies nicht alleine schaffte. Aber auch er blieb geistig sehr rege und wenn ich ihn besuchte, erzählte er mir die neuesten Nachrichten von der ganzen Welt, wusste aber auch alles über seine Familie, seine Töchter, Enkeltöchter und sein erstes Urenkelkind. Eine Unterhaltung mit ihm war kurzweilig, da er so viel zu erzählen wusste.
Bei diesen beiden fühlte ich mich in dem einen Jahr sehr gut aufgehoben, es war beinahe, als wäre ich ihre Adoptivtochter für diese Zeit. Sie waren sehr aufgeschlossen dem Leben gegenüber, verurteilten keine Mitmenschen wegen deren Glauben oder Ansichten. Sie gehörten keiner Glaubensgemeinschaft an, lebten aber dennoch die Gebote in ihrem Alltag. Von ihnen lernte ich praxisnah, was es heißt, Nächstenliebe auszuüben, denn dies war eine Selbstverständlichkeit für sie. Trotzdem blieb genug Zeit für ihre Freunde und gemeinsame lustige Kartenspielabende bei einem Glas Wein und viel Gelächter.
Mein Onkel ist mittlerweile über 90 Jahre alt, in letzter Zeit hatte er einige Schwächeanfälle, daher kann er nicht mehr allein in der Wohnung bleiben. Er kam ins Heim, wo er sich noch nicht eingewöhnt hat, da es für ihn sehr schmerzhaft ist, seine Selbstständigkeit aufgeben zu müssen.
Heute werde ich ihn besuchen, meine Cousine hat mich gewarnt, er sieht schlecht aus und hat wenig Lebenswillen. Ich hoffe, dass er sich dennoch über meinen Besuch freut und ein wenig wie in alten Zeiten mit mir plaudern möchte.
© Victoria 2021-04-10