Nächstes Jahr, Baby, Oh Baby!

Pia Holter

von Pia Holter

Story

Nächstes Jahr, Baby, werden wir 80 und an all die Geschichten denken, die wir unseren Kindern gern erzählen würden – wenn wir welche hätten.

Aber stattdessen haben wir die lange Liste abgearbeitet. Von Silvester zu Silvester den Rest unseres Lebens abgefeiert, abgenommen, früh aufgestanden, Allgemeinwissen angehäuft und bis die Wolken wieder lila wurden Gehirnzellen wie Konfetti ersäuft, sind aufs höchste Dach gestiegen, haben Dopamin vergeudet, sind den Marathon gerannt und haben schon im Zieleinlauf das nächste Häckchen auf der Bucket List geplant.

Ich bin heute eine von denen mit kurzen Listen. Ich will mit meinem Mann alt werden. Ich will, dass meine Kinder glücklich sind, noch lieber alle Kinder auf der Welt und für alle so viel Geld, dass sie’s nicht zählen müssen und miteinander Zeit verbringen können.

Ich glaub, ein Leben ist genug Zeit. Es muss nicht mehr Zeit her oder wenigstens alles schneller gehen. Ich glaub, ein Leben ist genug Zeit. Wenn ich bewusst leb’, bleibt sie ohnehin oft stehen.

Und ja, ich bin auch eine mit großen Träumen. Ich wär oft gern klüger, mutiger und weiter. Und sitz abends auf der Couch und meine Serie macht mich nicht gescheiter. Ich hab Angst, dass ich mein Potenzial verschwende, weil doch jetzt angeblich die beste Zeit meines Lebens ist und ich beobachte meinen Sohn, während er Sandkuchen isst.

Welche Geschichten werde ich erzählen, wenn ich kein Vorbild bin, keine Weltreise vorzuweisen, statt die Karriereleiter rauf, kletter ich am Spielplatz rum, hab mich selbst nirgendwo speziell neu gefunden, bin einfach immer noch nur ich.

Aber dir ist das genug und du hast jetzt schon jede Menge zu erzählen. Und ich hör dir zu.

Und nächstes Jahr, Baby, werden wir 30 und an all die Geschichten denken, die du weitererzählen wirst.

Ganz egal, wer das gesagt hat: Der Sinn des Lebens ist nicht leben, sondern Leben geben.

Und damit mein ich nicht ein Kind zu zeugen. Das können leider auch die Falschen. Und manchen, die dazu bestimmt wären, bleibt es dennoch verwehrt. Ich meine Lebenszeit zu schenken. Und dabei nicht an sich zu denken. Ich meine wirklich alles geben. Und damit einen Teil von sich. Ich meine, dass ein paar von meinen Träumen solche bleiben, damit andere auch ein paar der ihren leben.

Und Kinder sind nicht ein weiterer Punkt auf der Liste, den man möglichst effizient mal erledigt haben sollte. Sonst fehlt uns Geborgenheit nicht nur als Kind, sondern auch, wenn wir erwachsen sind. „Bindungsangst“ ist ein geflügeltes Wort, dabei hieße „sich binden“ einen Ort zu schaffen an dem du ankommen und die Tür schließen darfst. Denn wenn wir uns alle Türen offen halten, wird es auf Dauer kalt und ein Zuhause, dass keine Wärme bringt, mag keiner, ob jung oder alt.

Lass uns nicht alles tun, nur weil wir es können. Lass uns mal für was entscheiden, sodass wir was wir „müssen“ wollen.

Unsere Zeit die geht vorbei und das ist gut so. Und für immer sind wir frei, auch wenn’s einiges zu verlieren gibt, wenn du wirklich was riskierst.

© Pia Holter 2021-06-02

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