von Tamara Nessler
„Du lügst! Das ist ein Märchen, meine Mutter hat mir gesagt, dass es so etwas nicht gibt!“, schreie ich den jungen Mann an. Er ist der älteste Sohn von einem der Arbeiter hier an Bord. Zwei Jahre, exakt seit seinem 16 Geburtstag, begleitet er seinen Vater und uns nun schon auf unseren Überfahrten.
„Warum schreist du denn Prinzessin, fürchtest du dich etwa? Wenn es gelogen ist, bleib über Nacht wach und wir finden es raus! Ich habe sie gesehen!“, entgegnet er energisch. Ich bin keine Prinzessin, doch ihm ist das egal. Für ihn sieht mein Leben aus, als wäre ich eine. Ich bin die Tochter seines Lords. Außer mir und Mutter sind keine Frauen an Bord erlaubt. Zeitweise wünsche ich, wir wären ebenfalls nicht hier. Wie gerne würde ich bloß ein Dorfmädchen sein, eine bürgerliche Magd oder die Tochter eines Schmieds. Wir sind dauernd unterwegs und reisen von einem Ort zum anderen.
Früher blieben wir in unserem Herrenhaus und warteten Monate, teils Jahre, bis Vater von seinen Überfahrten zurückkam. Kaum erreichte ich das heiratsfähige Alter, unmittelbar, nachdem ich geblutet hatte, war es unvermeidlich, uns ihm anzuschließen. Undenkbar, was passieren würde, wenn sich die Tochter des Lords mit einem niederen Burschen einlassen würde in seiner Abwesenheit.
Den größten Teil unserer Belegschaft kenne ich seit meiner Geburt. Ebenso Alec, der Sohn des Steuermanns, der gerne Geistergeschichten erzählt. Er ist nur wenige Jahre älter als ich, doch während ich zart und zerbrechlich scheine, wirkt er wie ein Mann. Er ist zwei Köpfe größer, muskelbepackt, braungebrannt von der Sonne und gestählt von der harten Arbeit an Bord.
„Weißt du was Alec, wenn wir hier durchfahren, gibst du immerzu denselben Schwachsinn von dir. Es reicht! Ich werde wach bleiben und ich werde allen hier beweisen, dass das Humbug ist“, verkünde ich mit starker Stimme. Er setzt ein schelmisches Grinsen auf und streckt mir die Hand entgegen.
„So soll es sein, wenn die Abendlaternen ausgegangen sind und die Kerzenrunde anfängt, treffen wir uns am hinteren Mast“, erklärt er während er auf meinen Handschlag wartet. Ich schlage ein und nicke kurz.
Die anderen jungen Männer schauen sich zögernd an und lassen ihren Blick zwischen mir und Alec hin und her schweifen. „Du weißt, was passiert, wenn der Lord das herausfindet, oder schlimmer, dein Vater!“, flüstert ihm der eine zu. Unbeeindruckt verdreht er seine Augen und erwidert: „Die Prinzessin hält bestimmt dicht, nicht wahr?“ Wieder nicke ich. Die Menge löst sich auf und alle gehen zurück an ihre Arbeit. Alec, der als letzter geht, dreht sich um und wirft mir zum Abschied ein verschmitztes Lächeln zu, so als ob er es nicht erwarten kann, mir zu beweisen, dass diese Schauergeschichten der Wahrheit entsprechen.
Ich bin mir sicher, dass wir keine Sirenen, Geister oder sonstige Seemonster finden. Alles was ich sehen werde heute Nacht, ist Alec. Alleine und ungestört. Darauf warte ich schon seit langer Zeit.
© Tamara Nessler 2023-08-30