von Maria Büchler
… alle Uhren schlagen“, sang einst Peter Alexander. Einige Jahre lang war es bei mir genauso. Ich wohnte nahe der Luzerner Altstadt, auf dem höchsten Punkt des Brambergs. Besonders in der Nacht drangen viele Glockenschläge an mein Ohr. Allen voran ertönte das tiefe Boing vom Zytturm herab.
Wie einige von euch wissen, ist die Museggmauer mit ihren neun Türmen Teil der historischen Stadtbefestigung, ebenso wie die Kapellbrücke. Das ist die mit den Gemälden. Also eine davon, denn die weniger bekannte Spreuerbrücke ist ebenfalls mit dreieckigen Bildtafeln geschmückt. Die sind allerdings düsterer und dem Totentanz gewidmet.
Als einziger trägt der Zytturm Zifferblatt und Uhrwerk, daher sein Name: Zeitturm. Er darf eine Minute früher als alle anderen Uhren schlagen. Wenn man in seinem Inneren die Treppe emporsteigt, hat man eine wundervolle Aussicht weit über den See hinaus. Er ist auch ein Zufluchtsort für Liebespaare. Ganz oben können sie ungestört schmusen, denn knarrende Holzstufen warnen rechtzeitig, falls jemand kommt.
Auf den Zytturm folgen eine Reihe von Kirchenglocken mit hellerem und dunklerem Klang. Bald konnte ich sie voneinander unterscheiden. Wer nicht gerade unter Schlaflosigkeit leidet, genießt diesen Ohrenschmaus.
Auf dem Bramberg hört man eine ganze Menge. Wenn am Schmutzigen Donnerstag die Fasnacht beginnt, wird jeder um fünf Uhr vom Urknall geweckt. Der wird von einem Boot auf dem Vierwaldstättersee abgefeuert. Es lohnt sich, aufzustehen und zum See hinauszublicken, wo unter bengalischem Feuer von der Fritschifamilie und den Guggenmusikgruppen die sechs Fasnachtstage eröffnet werden.
Viele Luzerner flüchten davor. Wer das nicht kann, freundet sich besser mit dieser Art von Volksfest an, zieht sich zumindest das übliche bunte Rüschengewand über und stürzt sich in den Trubel. Ich übertreibe kaum, wenn ich behaupte, dass das Feiern vom Urknall bis zum Aschermittwoch nicht mehr aufhört. Die Geschäfte und Ämter sind geschlossen.
Einmal habe ich mir ein Katzenkostüm samt Öhrchen, Tatzen, Gamaschen und passendem Felltäschchen ausgeliehen. Dazu wurde ich von einem Profi airbrush-geschminkt. So sehr habe ich noch nie einen Faschingstag genossen.
Ein nächtliches Geräusch jedoch werde ich nie vergessen. Im August 2005 gab es so heftige Niederschläge, dass der Vierwaldstättersee mehrere Tage lang über die Ufer trat. Kniehoch stand das Wasser in den Straßen der Altstadt. In aller Eile wurden überall Stege errichtet. Ich fühlte mich nach Venedig versetzt, wenn dort aqua alta ist.
Der Pegelstand wurde ohne Unterlass überwacht. Als der See schließlich den Kai flutete, riss um vier Uhr morgens die Sirene Mensch und Tier aus dem Schlaf. Doch der Heulton HÖRTE NICHT MEHR AUF! Wie ich später erfahren habe, wurde der Alarmknopf so stark gedrückt, dass die Mechanik blockierte. Erst eine Stunde später war es endlich wieder still. Die Ohren klingelten, und an Schlaf war nicht mehr zu denken.
© Maria Büchler 2022-01-14