von Sandro Kaspar
Der letzte Zug war gut besetzt. Ich war heilfroh, trotz seiner 4-stündigen Verspätung das Ziel doch noch zu erreichen. Die Bahn rumpelte ab und zu. Hauptsache, sie fuhr. Bei jedem Halt leerte sie sich mehr und mehr. Mein vis-à-vis war eine junge Frau, sie hätte noch in der Ausbildung sein können. Sie trug ein Dirndl, ein oben geschlossenes, hübsches, farbiges Kleid und las in einem kleinen Buch. Kurz vor der Endstation kamen wir ins Gespräch. Ihr helles Lachen verriet sie als eine fröhliche, gut gelaunte Person. Ich sprach auch von meinen Plänen vom nächsten Tag und dass ich jetzt im Taxi zum reservierten Hotel fahren werde.
Punkt halb Zwölf erreichte der Zug Bayreuth. Wir waren sozusagen die letzten Passagiere. Eben schickte ich mich an, den kleinen Rollkoffer von der Ablage herunterzuholen. Das vis-à-vis war schneller und nahm mir die Arbeit ab. Nun, ich bin zwar bei weitem nicht mehr der jüngste und stärkste, aber für mich wäre das überhaupt kein Problem gewesen. In ihren Augen war ich eben ein sehr alter, allein reisender Mann, dem man behilflich sein musste. Für mich als noch aktiven Sportler eine gewöhnungsbedürftige Situation. Dankend verabschiedete ich mich und spazierte auf dem Bahnsteig langsam in Richtung Ausgang.
An der Treppe zur Unterführung wartete tatsächlich das freundliche vis-à-vis auf mich. Es trug meinen Koffer die Treppen hinunter und begleitete mich in der langen Unterführung um zu den Taxis zu gelangen. Wieder an der Oberfläche – was war denn das? Weit und breit keine Taxihaltestelle zu sehen, kein Auto, nichts dergleichen. Hoffnungsvoll warteten wir zu zweit auf ein zufällig vorbei fahrendes Taxi, suchten bis zu einer Kreuzung den Taxistand, vergebens. Die ganze Stadt lag im tiefen Schlaf. Die Begleiterin rief auf meinen Wunsch mit ihrem Handy mehrere Taxiunternehmen an, aber keines antwortete. Warten, warten, 15, 20 Minuten, nichts. Es blieb wohl nichts anderes übrig, als zu Fuß, in tiefer Nacht, mithilfe meines GPS das Hotel aufzusuchen.
Da überraschte mich das Dirndl: «Wenn Sie möchten fahre ich Sie zum Hotel, aber mein Auto ist etwas weit weg von hier parkiert, da müssen wir schon ein Stück zu Fuß gehen». Also marschierten wir. Wir stiegen in ihr Fahrzeug und fuhren durch die menschenleeren Straßen zum Hotel. Erst als ich mithilfe des Codes die Hoteltüre öffnen konnte, verabschiedete sich die junge Frau und verschwand mit ihrem Auto in der Dunkelheit. Auf was für ein Goldenes Bayreuther Mädel ich gestoßen war!
Tags darauf wollte ich wissen, wo zum Kuckuck denn letzte Nacht alle diese Taxis blieben. Zurück zum Bahnhof rekonstruierte ich genau unsere Ankunft vom Bahnsteig aus. Ein großes Schild über dem Treppenabgang zur Unterführung zeigte den Weg. Nach rechts zu den Taxis, nach links irgendwo anders hin. Und genau da lag der Hase im Pfeffer: Aus unerklärlichen Gründen verwechselten wir beide links und rechts.
(Das Abenteuer Bayreuth ging weiter, steht in der Story «Die Krux mit Wagner»).
© Sandro Kaspar 2022-11-19