von JeanStils
Meine weißen Turnschuhe quietschten auf dem gelbgrünen Linoleumboden des Krankenhauses. Das künstlich erzeugte, grelle Licht der Deckenbeleuchtung brachte meine übermüdeten Augen zum Tränen. „Verdammtes Krankenhaus, verdammte Nachtschicht und verdammtes Medizinstudium!“, murrte ich zwischen zwei Atemzügen, während ich in den nächsten Gang hastete.
Mit frischen zweiundzwanzig Jahren hatte man gewiss Besseres zu tun, als um drei Uhr morgens sämtliche Schlafsäle eines Krankenhauses abzuklappern, nur um sicherzustellen, dass den Patienten nichts fehlt. Aber ich wollte Arzt werden. Was machten da schon ein paar Nachtschichten?
Ich öffnete die Tür von Zimmer 317. Patient John Doe. Zumindest war dies der Name, den das Krankenhauspersonal dem vermutlich achtzigjährigen Mann gegeben hatte, als er 2 Monate zuvor auf dem Parkplatz des Krankenhauses aufgetaucht war. Offensichtlich verwirrt und übel zusammengeschlagen hatte er angegeben, sich an keine Details aus seinem früheren Leben erinnern zu können. Kein Name, keine Herkunft, keine Familie. Selbst die Polizei hatte keine Anhaltspunkte gefunden und bis heute traf keine Vermisstenanzeige auf den Fall John Doe zu.
Als ich das Krankenzimmer betrat, hielt ich überrascht inne. Ich hatte damit gerechnet, wie üblich eine friedlich schlafende Person vorzufinden. Stattdessen war das Zimmer hell erleuchtet und John Doe stand reglos vor einem der bodentiefen Fenster. Unerwartet überlief mich bei dem Anblick ein eisiger Schauer.
„Hey John!“, machte ich mich mit zögerlicher Stimme bemerkbar. „Wieso sind Sie denn um diese Uhrzeit noch auf den Beinen?“ John Doe drehte sich zu mir um und zum ersten Mal seit ich ihn kannte, nahm ich keine Verwirrtheit in dem Ausdruck seiner Augen war. Ganz im Gegenteil: Er wirkte regelrecht belebt und ich hatte den Eindruck, dass sich in die nun wachen Augen ein irrer Funke geschlichen hatte.
„Ich schätze“, begann der Patient mit krächzender Stimme, „es gibt nun keinen Grund mehr, mich John zu nennen“. Ich blickte ihn verdutzt an. War es möglich, dass er sich wieder an Etwas erinnert hatte? „Welchen Namen darf ich denn nun benutzen, mein Lieber?“, erkundigte ich mich vorsichtig. Aus einem mir noch unersichtlichen Grund, wollte ich unbedingt vermeiden, ihn zu verärgern.
Ein leises Lächeln umspielte seine blassen Lippen. „Ja… Mein Name… Ich glaube nicht, dass ich ihn dir erzählen sollte. Nein, keine gute Idee.“ Er schien mehr mit sich selbst, als mit mir zu sprechen. Doch ich hakte nach. „Ist Ihnen wieder eingefallen, wer Sie so zugerichtet hat? Wer hat sie vor zwei Monaten verletzt?“ Das war die wichtigste Frage, nicht wahr? Doch seine Antwort war die letzte, mit der ich gerechnet hatte.
„Oh, das kann man so nicht sagen. Sie hat sich nur gewehrt. Genutzt hat es ihr am Ende nichts. Das tut es nie.” Ich trat einen Schritt zurück. „Wem hat es nichts genutzt?“ John Doe schaute mich an und lächelte. „Der Frau, die ich umgebracht habe natürlich.“
© JeanStils 2022-08-25