Nachtspaziergang

Gino Dola

von Gino Dola

Story
Hamura, Japan 2025

Es war schon spät, in wenigen Momenten würde ein neuer Tag beginnen. Doch irgendetwas zog mich hinaus, mein Körper vibrierte innerlich vor Unruhe. Ich gab diesem inneren Drang nach und trat aus der Haustür, hinaus in die Nacht. Ich hatte kein Ziel, ließ mich einfach treiben. Wie eine Motte zog es mich zu den Lichtern der Stadt, immer weiter, in immer neue Straßen, vorbei an kleinen Abzweigungen. Schnell hatte ich so oft abgebogen und neue, mir unbekannte Wege gequert, dass ich nicht mehr wusste, wo ich war. Die Dunkelheit hatte mich verschluckt. Die unzähligen Straßenlaternen, die die Straßen in Hamura säumten, wurden mit jeder Abbiegung weniger. Der Ort wurde mir immer fremder, neue Wege türmten sich kilometerweit vor mir auf. Kein Licht, keine Straßenlaternen, keine riesigen Werbetafeln. Nichts als die Schatten der Häuser, die sich stumm aneinanderreihten, während ich durch die stillen Straßen lief. Ich war weit weg von Tōkyō, weit weg von allem, was ich kannte – und doch war ich nicht verloren. Ich war genau dort, wo ich sein sollte. Über mir spannte sich der Himmel in unendlicher Weite, so tiefschwarz, dass er alles verschlang. Und dann – Sterne. Kein fahles, fernes Funkeln, sondern ein Glühen, ein Brennen, das die Leere durchbrach, als hätten sie nur auf mich gewartet. Sie waren zahlreicher, heller, lebendiger als je zuvor. Ich konnte sie fast spüren, konnte fast hören, wie sie mit mir flüsterten, mich riefen, mich erkannten. Ich war allein. Und doch nicht einsam. Kein Mensch weit und breit, keine Geräusche außer meinem Atem, meinen leisen Schritten auf dem Asphalt. Und doch hatte ich keine Angst. Nicht einmal den Hauch davon. Denn hier, in diesem Moment, gab es nichts, das mir etwas anhaben konnte. Japan war sicher, aber das war nicht der Grund. Die Nacht selbst hielt mich, als würde sie mich beschützen, als hätte sie mich auserwählt, Zeuge dieses Augenblicks zu sein. Ich spürte es in meinen Adern, in meiner Brust, tief in meinem Inneren – ich gehörte genau hierhin. Die Häuser, an denen ich vorbeiging, waren mehr als nur Mauern, mehr als aufeinandergestapelte Steine. Sie waren Kunstwerke, Träume aus Holz und Stein, gebaut mit einer Geduld, die ich spüren konnte, selbst in der Dunkelheit. Sie standen da, als wären sie immer schon da gewesen, als würden sie mich beobachten, mich willkommen heißen, mich verstehen. Und dann kam es über mich – dieses Gefühl. Es war größer als Glück, reiner als Freude, überwältigender als Freiheit. Ich war nicht nur in Japan, ich war nicht nur irgendwo auf dieser Welt. Ich war im Universum – ich war das Universum. Jeder Stern, jeder Schatten, jeder Atemzug war ein Teil von mir. Die Nacht hatte mich aufgenommen, mich in ihre Arme geschlossen, mich mit einer Liebe umhüllt, die keine Worte kannte. Ich spürte Tränen in meinen Augen, nicht aus Traurigkeit, nicht aus Schmerz – sondern weil ich etwas berührt hatte, das größer war als ich selbst. Ein Moment, der nicht in Sekunden zu messen war, sondern in Unendlichkeiten. Ein Moment, der mich heute für immer verändert hatte. Ich war nicht mehr nur ein Mensch. Nicht mehr nur jemand, der durch die Straßen eines fremden Landes lief. Ich war mehr, ich war der Moment. Die Sterne waren nicht über mir – sie waren in mir. Die Dunkelheit war nicht um mich herum – sie war ein Teil von mir. Ich gehörte nicht nur zu dieser Nacht – ich gehörte zum Universum. Und das ganze Universum gehörte in diesem Augenblick mir allein.

© Gino Dola 2025-02-14

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional