Es gibt eine recht große Auswahl an Momenten, in denen man sich nackt fühlt. Angenehme, wie eine heiße Dusche, nachdem einen der große Bruder mit Schnee eingerieben hat. Unangenehme, wie jene, in denen die Mama die Badezimmertür aufmacht, wohl wissend, dass einem das mit 15 Jahren dezent unangenehm ist. Diese Momente sind, gesellschaftlicher Konventionen sei Dank, ohnehin eher rar gesät.
Weitaus öfter fühlen wir uns nackt, obwohl die obligatorische Unterhose zwischen die Pobacken rutscht, die Schuhe drücken oder das Leiberl an Sommertagen am Rücken klebt. Wenn beispielsweise die Schwester das Tagebuch klaut und der gesamten Familie draus vorliest; wenn man weinend durch belebte Straßen nach Hause geht, nachdem einem die langjährige Freundin in einer Pizzeria den Laufpass gegeben hat; wenn man nachts allein auf die Bim wartet und von einem Fremden angesprochen wird; wenn man sich fragt, ob Vorurteile, die man eher anderen zuschreiben würde, auch auf einen selbst zutreffen und dabei Scham empfindet.
Nackt fühlt sich auch, wer vom Land in die Stadt gezogen ist und sich nach einer gewissen Zeit weder hier noch dort wirklich daheim fühlt. Denn nackt fühlt sich auch, wer sich unsicher, nicht zugehörig fühlt. Oder nach langer Zeit wieder an den Studienort zurückkehrt und feststellt, dass Eisfetischisten die Macht an sich gerissen haben.
Dann gibt es noch die Kategorie der geistigen Nackerpatzerln, in die wohl die meisten von uns von Zeit zu Zeit hineinfallen. Wenn wir uns beispielsweise spontan bei Ikea mit Sachen eindecken, ohne uns zu überlegen, wie zum Teufel wir das nach Hause bringen sollen; wenn wir wie Kinder miteinander rumblödeln und uns unbeabsichtigt auf die Daumen und die Zehen steigen; wenn wir trotz eindeutiger Wettervorhersage ohne Regenschirme aus dem Haus gehen; wenn wir Dinge einfach liegen lassen, wo sie nichts verloren haben. Von Zeit zu Zeit schreiben einem aber auch einfach Fremde diese Beschreibung zu, weil sie die Situation nicht richtig deuten. Etwa dann, wenn man über Balkone aus fremden Wohnungen ausbricht. Oder Bäume umarmt.
Zugegebenermaßen, Nackerpatzerln gibt es zuhauf – geistige wie tatsächliche. In der Stadt, am Land, auf Straßen und natürlich am Berg, wobei es am Berg bekanntlich keine Sünd gibt. Ob auf unseren Almen tatsächlich so etwas wie Narrenfreiheit herrscht, wird vielleicht Inhalt eines anderen Buches werden. Da die Autorin dieser Zeilen schon seit geraumer Zeit in Graz lebt, widmet sie sich in den nachfolgenden Geschichten erst einmal den dort ansässigen urbanen Nackerpatzerln und natürlich auch den BesucherInnen und zivilisiert Angekleideten in Stadt- und Lebensgeschichten.
© Franziska Pronneg 2021-08-14