Nackt

Finian Faller

von Finian Faller

Story

Ich hab mich nackt gesehen – das hat mir nicht gefallen. Hab meine Ecken, hab meine Kanten… Die hat natürlich jeder. Aber mir gefällt nicht, wo meine Kanten entlangfahren, und mir gefällt auch nicht, wo meine Ecken sich wölben. Es ist nicht, dass es sehr viel schlimmer aussieht als bei anderen, aber etwas stört mich. Das passt alles einfach nicht zusammen. Nein, das ist es nicht mal. Es ist nicht, dass es nicht passt. Es ist nur, dass es mir nicht passt. Das ist das Ich nicht, das ich suche.

Also fang‘ ich an, zu suchen. Im Spiegel hab ich schon gesucht, da bin ich nicht. Unterm Bett such‘ ich und unterm Schreibtisch, auf dem Schrank und zwischen Schrank und Wand, such‘ in der Badewanne, in der Dusche, in der Waschmaschine, im Trockner, in der Küche im Kühlschrank, ich suche überall, aber ich bin einfach nicht zu finden. Was mach‘ ich? Ich muss mich finden. Daheim bin ich aber nicht.
Also geh‘ ich raus, auf die Straßen. Nackt wie ich bin. Aber das hilft auch nichts. Ich mag auch noch so schnell durch die Altstadt rennen, über Brücken, unter Brücken, über Treppen, Katakomben… Ich bin nirgendwo. Vielleicht bin ich mir einfach immer einen Schritt voraus. Am Bahnhof sammelt mich die Polizei auf. Sie fragen, was ich denn hier so mache, nackt wie ich bin. Das sei ja nicht alltäglich. Das stimmt. Ich erkläre ihnen, wen ich suche: Ich suche mich. Das müssen sie doch verstehen.
Sie verstehen es nicht.
Also verbring‘ ich eine Nacht auf Station, in einer Zelle. Die Polizei gibt mir einen Einmal-Schutzanzug, damit ich nicht mehr nackt bin. Der gefällt mir nicht, aber ich lass‘ ihn an. In der Zelle sind zwei Pritschen, ich bin nicht allein. Der andere schläft, schnarcht und riecht nach Alkohol. Ich schau‘ sicherheitshalber unter die Pritschen, aber da bin ich auch nicht. Ansonsten gibt’s hier nichts, wo ich mich noch verstecken könnte.
Also schlaf‘ ich, auf der anderen Pritsche.

Am nächsten Tag lassen sie mich gehen. Ich zieh‘ den Anzug aus und geh‘ nach Hause, weil ich erschöpft bin und traurig, dass ich mich nicht gefunden habe. Wo bin ich? Wer weiß. Hier nicht.
Daheim leg‘ ich mich hin. Ich friere, also steh‘ ich auf, lauf‘ herum, friere immer noch, erinner‘ mich, öffne meinen Kleiderschrank und – siehe da! Da bin ich!
Ich nehm‘ mich aus dem Schrank heraus, betrachte mich, zieh mich an, so Stück für Stück. Schau mich an im Spiegel. Ja, das bin ich.
Das bin wirklich ich.

Ich hab mich nackt gesehen – das hat mir nicht gefallen.
Das ist das Ich nicht, das ich suche.
Glücklicherweise hab‘ ich mich
In meinem Kleiderschrank gefunden.

© Finian Faller 2025-05-08

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Herausfordernd, Dunkel, Komisch, Angespannt
Hashtags