von walter reichel
Ein heißer Sommertag, die Luft flimmert! Ich stelle mein Rad auf dem Parkplatz beim Supermarkt ab, um eine Packung Vanilleeis zu kaufen. Unmittelbar neben mir parkt ein schwarzer Mercedes; ein Herr Mitte 50 steigt aus. In der Hand trägt er eine Geldbörse aus Krokodilleder und ein Mobiltelefon. Alles an seiner Erscheinung, sein gepflegtes Haar, sein rasiertes Kinn, seine selbstsicheren Gesichtszüge, seine aufrechte Haltung kennzeichnen ihn als soignierten Herrn aus dem bürgerlichen Mittelstand, nichts an diesem Zeitgenossen würde meine Aufmerksamkeit erregen, wenn er bekleidet wäre, aber er ist nackt.
Er geht mit ruhigen Schritten zu einem Einkaufswagen, löst ihn mit einer Münze von der Kette und betritt das Geschäft.
Nun erst erwache ich aus meiner Erstarrung und beobachte mich gewissermaßen selbst beim Beobachten, während ich ebenfalls das Geschäft betrete. Ein Verrückter, ein Verrückter! Natürlich bin ich neugierig, was jetzt wohl geschieht, mache mich gefasst auf spitze Schreie, erwarte, dass einige nun in panischer Flucht oder doch wenigstens mit beschleunigten Schritten das Einkaufszentrum verlassen, aber nichts dergleichen! Und, ich muss es zugeben, auch ich halte mich ruhig. Immerhin, es ist doch ein sehr heißer Tag, und aus diesem Blickwinkel gesehen, mag der Verzicht auf Kleidung rational begründbar sein. Wir leben in einem freien, toleranten Land, in dem schon das Tragen eines Kopftuchs als anstößig empfunden wird, wenn es sich nicht gerade auf dem Kopf einer Nonne befindet, warum also nicht bei dieser Affenhitze sämtliche Textilien entfernen und immerhin, wer den Anblick eines nackten älteren Herrn nicht schätzt, muss ja nicht hinsehen. Außerdem, so denke ich, verrät eine so radikale Ablehnung einer dermaßen üblichen Bekleidungskonvention, die ja nicht nur in Europa, sondern nahezu weltweit verbreitet ist, eine mutige Gesinnung, eine bemerkenswerte Eigenständigkeit, ein verhaltensoriginelles individuelles Beharrungsvermögen gegenüber einer allgemeingültigen sozialen Norm. Was dieser Mann hier vormacht, so denke ich, ist durchaus bewunderungswürdig, andererseits könnte man einwenden, dass eine gewisse aufdringliche Rücksichtslosigkeit gegenüber jenen Personen vorliege, die von der normativen Gültigkeit der allgemeinen Bekleidungsgewohnheit überzeugt sind, denn schließlich muss man ja, um wegsehen zu können, zunächst einmal hingesehen haben, ohne sich zuvor schon für die Vermeidung eines solchen Anblicks entscheiden zu können. Nun könnte man abermals einwenden, dass es keinen objektiv nachvollziehbaren Grund gäbe, darüber schockiert zu sein, dass ein normaler menschlicher Körper, sei er nun männlich oder weiblich, dessen Beschaffenheit doch ohnehin allgemein bekannt sein dürfte, durch seine Enthüllung sichtbar wird, zumal dieser Mann offenbar keine andere Absicht hat, als in einem Supermarkt einzukaufen.
(Fortsetzung folgt)
© walter reichel 2021-05-30