Nägel in der Wand

Gabriele Leeb

von Gabriele Leeb

Story

Gestern habe ich begonnen, die Fotos von Mama durchzuschauen. Ich habe viele Fotos gefunden, die ich noch nie gesehen habe. Eines ist mir sofort ins Auge gestochen, auf dem sah Mama glücklich aus und hat gelacht. Ich habe so bei mir gedacht, also gab es doch auch schöne Zeiten für sie. Zumindest die letzten zehn Jahre legte sie eine gewisse Unzufriedenheit an den Tag, obwohl sie sich in ihrer Wohnung wohlgefühlt hat. Auch so ein gewisser Neid auf andere war vorhanden.

Heute muss ich beginnen, die vielen Nägel von den Wänden zu entfernen. Mama hatte sehr viele Bilder aufgehängt. Mit einer Zange bewaffnet gehe ich ans Werk. Bei jedem Nagel, den ich entferne, denke ich an dich, mein Freund. Als würde ich die Nägel aus meiner Haut ziehen. All die schmerzvolle Sehnsucht, die sich in den letzten Wochen aufgestaut hat, symbolisieren diese Nägel. Die Löcher in den Wänden spachtele ich zu und nichts ist dann mehr sichtbar, nichts von der Verletzung der Mauer. Ich frage mich, ob es bei uns auch so einfach wird? Was ist, wenn sich die Sehnsucht nicht stillen lässt, sich die Löcher nicht kitten lassen? Bleiben sie für immer bestehen?

Ich öffne alle Fenster in der Wohnung und die Spachtelmasse trocknet und die sichtbaren Zeichen der Bilder an der Wand sind verschwunden. Noch gibt es viel Müll zum Entsorgen und massenhaft Bücher. Lesen war eine große Leidenschaft von meiner Mutter. Fünf Bücher habe ich mir behalten, für die anderen habe ich leider keinen Platz.

Doch nun mache ich Pause, die Friseurin kommt zum Haareschneiden und mein Enkelsohn Kilian kommt auch.

Später widme ich mich wieder der Wohnung und den Nägeln in der Wand im Schlafzimmer und Wohnzimmer. Vielleicht weiß ich dann auch schon mehr, wie sich die schadhaften Stellen in unserer sehnsüchtigen Leidenschaft ausmerzen lassen? Nur darüber malen oder doch mehr in die Tiefe gehen?

© Gabriele Leeb 2022-04-14