Namibische Tischsitten

Waltraud Lehofer

von Waltraud Lehofer

Story

Wir sitzen „overdressed“ mit steifem Rücken auf unseren Stühlen, ein Gebet wird gesprochen. Auf dem Tisch vor uns altes, schweres Silberbesteck, Stoffservietten mit Häkelspitzen, Teller mit Goldrand, Wasserglas, Weinglas, Schüsselchen, Vorlegebesteck, Blümchen in einer Schnörkelvase… Amen … Bitte kannst du mir die Butter reichen wird gefragt und sie wird gereicht. Steht doch in Reichweite, müsste nur die Hand ausstrecken!? … Bitte kannst du mir das Salz reichen? … Hier wird nicht gegessen, hier wird zelebriert. Bizarre Szenerie, Gisela, eine weiße Südafrikanerin mit deutschen Wurzeln inszeniert sie täglich. Bizarres Ambiente, ein notdürftig adaptierter, gekalkter Raum im Nebengebäude einer sichtbar abgewirtschafteten Farm in Namibia. Der Schwiegervater thront im Haupthaus! Gisela kam zum Studium nach Wien, ich zum Arbeiten, wir wurden Freundinnen. Dann kam der Heiratsantrag per Luftpost, sie sagte ja und zog auf die Farm. Ich war noch niemals in Afrika …, bin Single, Lisa auch. Wir planen vierzehn Tage Sightseeingtour durchs Land und vierzehn Tage auf der Farm bei Gisela, eine Autostunde von Windhoek entfernt. Die Eindrücke sind unbeschreiblich, reisen macht was mit einem, ich seh und kapier so vieles zum ersten Mal. Schwarz ist nicht schwarz, sondern Ovambo, Kavango, Herero oder Damara – soziales Gefälle und Spannungen. Bin geschockt von der Reißbrett-Sozialsiedlung am Rande Windhoeks und tief beeindruckt von majestätisch einher schreitenden Elefanten, roten und gelben Sanddünen und der Badewanne aus poliertem Granit in der Geisterstadt Kolmannskuppe. Hab auch noch nie zuvor die Geschichte gehört, die Giselas skurrilen Tischmanieren zugrunde liegt und die sie mir eines Tages erzählt: Ein Deutscher wandert nach Afrika aus, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Er kauft ein Stück Land, baut notdürftig ein Farmhaus. Dank Doris Lessing hab ich eine klare Vorstellung, wie es ausgesehen haben muss. Zehn Jahre schuftet er schon, gönnt sich und der Familie nur das Notwendigste, steckt alles in den Aufbau. Die Familie sitzt noch immer auf den rohen Transportkisten, als Tisch dient der Deckel einer Kiste. Dann kündigen Verwandte aus der Heimat ihren Besuch an. Man freut sich riesig, der Besuch erzählt vom Leben daheim, von Bräuchen und Gewohnheiten und hantiert gesittet mit Messer und Gabel, nippt aus den blechernen Bechern und ignoriert vornehm die barbarische Ausstattung des Raumes. Irgendwann steht der Farmer plötzlich auf, geht hinaus, ein Schuss fällt. Der Farmer, so endet Giselas Geschichte, hat sich erschossen, weil er im Zusammensein mit seinen Verwandten plötzlich erkannt hat, dass er zwar alles in seinen Lebenstraum investiert, dabei aber auch alles verloren hat, nämlich die Kultur und damit das Menschsein. Ich hab verstanden, sie wehrte sich, wollte auf dieser verlorenen Farm nicht das gleiche Schicksal erleiden. Ich hoffe, es ist ihr gelungen, hab nichts mehr von ihr gehört.

© Waltraud Lehofer 2021-01-22

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