von wondersome
Sie schlagen mir mit Ihrer Nettigkeit ins Gesicht, und ich drücke das so aus, weil ich es tatsächlich so meine. Immerzu tragen Sie diese Maske, die Ihre Hässlichkeit verbirgt. Eigentlich könnten Sie sich ihr selbstgefälliges Grinsen von den Lippen wischen, denn mittlerweile hat Sie jede Person durchschaut. Ob Sie nun frohe Kunde bringen oder den übelsten Ärger im Gepäck haben, Ihre Mimik scheint dieselbe. Manchmal entgleiten Ihnen die Züge, und man kann Ihr wahres Antlitz erkennen, für einen winzigen Augenblick nur. In einer Welt, in der es gilt, alle zu befriedigen, erbringen Sie die Leistung, die man sich wünscht, und man kann erkennen, was Ihnen das kostet. Sie passen in diese Sphäre der Oberflächlichkeit, weil Sie tun, was zu tun ist, und das ist Ihnen genug. Jedes einzelne Wort von Ihnen klingt so falsch. Gespräche führen selten über allgemeine Verpflichtungen oder das Wetter hinaus. Fehler suchen Sie stets bei anderen, nie bei sich selbst. Im Urteilen sind Sie schnell, aber was Empathie angeht, sind Sie träge, fast schon erlahmt. Nie machen Sie sich darüber Gedanken, dass andere Leute auch mit Problemen zu kämpfen haben, und falls doch, dann denken Sie, dass alle genauso gleichgültig damit umgehen. Sind Sie zufrieden damit, wie Sie leben? Vermutlich schon! Sind Sie zufrieden mit sich selbst? Wohl kaum!
Ich war noch niemals in meinem Leben nett. Es liegt mir nicht. Smalltalk ermüdet mich, Konversationen ohne Bezugspunkt finde ich anstrengend. Verstellen kann ich mich auch nicht. Wenn mir jemand missfällt, bekommt er das mit aller Macht zu spüren. Und trotzdem würde es mir nie in den Sinn kommen, jemanden vorschnell zu verurteilen, meine Schlüsse zu ziehen, Leute abzustempeln. Ich helfe anderen, nicht weil ich mir eine Gegenleistung erwarte, sondern weil es menschlich ist. Ich halte anderen die Tür auf, nicht weil es zur Etikette gehört, sondern weil es Sinn macht. Ich gebe Komplimente, nicht weil ich mich anbiedern will, sondern weil es die Persönlichkeit meines Gegenübers formt. Ich sage die Wahrheit, nicht um mich nicht in Lügen zu verstricken, sondern weil ich mich selbst mit allen Tugenden und Sünden akzeptieren kann. Und wenn es meine Energie zulässt, werde ich stets versuchen, dich zu verstehen – zu begreifen, was das Leben angestellt hat, dass du so bist wie du bist. Macht mich das zu einem guten Menschen? Oh, wahrhaftig nicht! Fühlt es sich wenigstens gut an? Das schon eher!
Wenn ich die Wahl hätte, würde ich eine ehrliche Person einer höflichen vorziehen. Einen grimmigen aber gerechten Vorgesetzten einem freundlichen aber unfairen. Einen einfältigen aber fleißigen Schüler einem schlauen aber überheblichen. Ich wäre lieber in Gesellschaft eines guten Menschen als einen netten. Aber das wussten Sie bestimmt schon. Sie verstehen es nur nicht.
Nett zu sein ist eine Verhaltensweise, gut zu sein ist eine Charaktereigenschaft.
© wondersome 2022-07-08