Neuanfang

Ambika Christen

von Ambika Christen

Story
Irgendwo

Das Leben hatte mich entkleidet: von meinem Mann, vom Zuhause, von der Familie. Dreizehn Jahre Norwegen verblassten. Mit 58 kehrte ich ohne Sicherheiten zurück in die Schweiz. Es war der Ruf, nochmal von vorne anzufangen und ganz neu geboren zu werden.

Gemütlich sitze ich auf meinem Sofa und liebe diesen Platz ganz besonders. An meiner Seite liegt Aila. Im Sommer ist sie bei mir eingezogen. Seitdem teile ich mein Zuhause mit diesem wilden Wesen, das morgens sanft um meinen Kopf schnurrt und mir Katzenküsse ins Gesicht haucht, bevor es sich eng an mich schmiegt und mir erlaubt, noch ein wenig in den Tag hineinzuträumen. Allerdings – wenn Aila auftaucht, ist das Aufstehen nicht mehr fern. Kurz darauf klingelt schon der Wecker. Ich schlüpfe in meine Pantoffeln – der Herbst ist gekommen. In der Küche summt der Wasserkocher, während ich Ailas Trockenfutter abmesse. Früher bekam sie nur das Beste, naturbelassenes Nassfutter. Jetzt ist das Geld knapp, meine Stelle wurde gekürzt. Für den Moment genügt das, was da ist. Auch das ist Teil des Neuanfangs: zu lernen, mit weniger zu leben und darin Frieden zu finden. Mein Morgenritual: frische gemahlenen Kaffee in die Glaskanne, heißes Wasser darüber, das Aufsteigen des Duftes, die große Tasse Milchkaffee in meinen Händen.

Ich kehre zurück aufs Sofa, bevor der Tag beginnt mit all den kleinen Dingen, die nach Aufmerksamkeit rufen: putzen, kochen, waschen. Zum Glück geht das schnell, in meinem kleinen Haushalt. Die Küche aber fremdelt noch mit mir. Kochen ist keine Freude mehr wie früher. Liegt es daran, dass ich nun alleine lebe? Oder daran, dass ich Grenzen überschritten habe – von einem Land in ein anderes, von einem Leben ins nächste?

Aila hüpft auf den Wannenrand, wenn ich bade. Sie frisst viel, schläft tief und trinkt gut. Draußen jagt sie den Vögeln nach, drinnen kuschelt sie sich am liebsten auf meinen Bauch. Eine kleine, zufriedene Gefährtin. Jetzt, da sie größer ist, unternehmen wir kleine Ausflüge. Besonders gerne gehen wir gemeinsam in den nahen Wald, vorbei an den Kühen, die ihr manchmal unheimlich sind. Doch sie bleibt mutig, bleibt an meiner Seite. Den Wald liebt sie. Nach Hause laufen wir im Sauseschritt.

Auf dem Sofa kehrt Ruhe ein. Sie putzt ihr Fell, ich öffne den Laptop, bereite den Unterricht vor. Ich habe das Glück, 17 wundervolle Kinder an drei Vormittagen pro Woche zu begleiten. Zwei Jahre lang darf ich für sie da sein: trösten, basteln, vorlesen, singen, malen, tanzen, weben, spielen, im Wald Feuer machen, Schätze suchen. Ich schlichtete Streitereien, verteile Pflaster, umarme, lobe, staune, freue mich – und schimpfen? Muss ich kaum. Mein Leben sortiert sich komplett neu. Im Frühsommer starb mein langjähriger Freund und Partner. Plötzlich, unerwartet. Die Nachricht kam über Facebook von einer Bekannten. Mein Herz sprang aus meiner Brust. Die Familie hat mich nicht informiert. Nur später von der Beerdigung ausgeladen.

Nun nehme ich jeden Tag, wie er kommt. Wie jeden Tag neu anfangen. Mal schwerer, mal leichter. Mal grau, mal von Licht durchzogen. Trotzdem, jeder einzelne Tag und auch ich, verdient es, so geliebt zu werden, wie er ist.

© Ambika Christen 2022-09-30

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Unbeschwert