Neue Normalität

Daniela Krammer

von Daniela Krammer

Story

„Ich hab die Luft anghalten beim Vorbeirennen!“ ruft er über die Schulter zurück, der sportliche ältere Herr. Der schmale Weg am Bacherl entlang lässt keinen Platz für Abstand-halten, deshalb trete ich brav zur Seite ins Dickicht, als ich den Herrn keuchend entgegenkommen sehe. Ich lächle ihn an und grüße freundlich. Er schaut angestrengt an mir vorbei und ruft dann diesen Satz zurück. Neue Normalität? Luftanhalten mitten im Wald?

Auf einen Termin bei der Friseur, Kosmetik, Fußpflege und Maniküre freut sich im Moment jeder. Ich auch – mein Friseur ist nur leider auch ein Freund. Ich weiß, dass er im Moment sowieso zuviel arbeitet, also warte ich noch ein paar Wochen. Meine Haare sind zum Glück ohne künstliche Farbe und von einer wilden Lockigkeit, die sich bis jetzt ganz gut mit hin und wieder Spitzen vorne schneiden bändigen lässt. Ein Freundin meinte: „Hach war das schön, dass mal wieder jemand anderer als mein Freund meine Kopf gestreichelt hat!“ Ja ich kann ihr das nachfühlen. Trotzdem irritieren mich die Reaktionen mancher Frauen. „Endlich wieder Mensch!“ „Hurra frisch renoviert!“ posten sie auf Instagram und Facebook und ich möchte ihnen allen persönlich sagen: „Hey, genieß es, dich zu verwöhnen, aber du bist auch ohne falsche Wimpern und Nägel wunderschön!“ Oder kann man sich wirklich nicht mehr im Spiegel sehen, wenn man diesen Reality-Photoshop mal gewohnt ist? Alte Normalität?

Im Radio werden die ersten Tipps gegeben, wie man Schadenersatz von den Reisebüros und Airlines bekommt, wenn man wegen Corona mehr als 4 Stunden längere Anreisezeiten hat. Wollten wir nicht in Österreich Urlaub machen und es mal gemütlicher angehen? Stattdessen überlegen wir schon, wie wir uns die noch unbequemere Anreise per Billigflieger abgelten lassen – neue Normalität?

Zwei Männer begrüßen sich am Gartenzaun mit Handschlag, ihre Söhne umarmen sich. Als wären die letzten 2 Monate nicht gewesen. Aber warum auch nicht? Der Bundeskanzler lässt sich im Westen Österreichs von einer Traube Menschen mit Österreich-Fahnen frenetisch begrüßen. Abstandsregeln gelten offenbar nicht, wenn es um Selfies mit dem politischen Popstar fürs Ländle geht. Dass wir Künstler unsere Arbeit noch lange nicht machen dürfen, dass unsere schon gebuchten Auftritte bis August bis auf wenige Ausnahmen gecancelt wurden, viele Existenzen ruiniert wurden, ist wurscht. Die Leute dürfen ja dem Bundeskanzler zujubeln. Wer braucht da Musiker oder Schauspieler oder Kabarettisten.

Ich höre die Vögel zwitschern, ich sehe das üppig grüne Blätterdach. Meine Gedanken führen mich nach Venedig, wo in der Lagune angeblich wieder Delfine schwimmen. Danach wird alles anders sein – haben wir uns gewünscht. Nur: wie anders? Sind wir bereit, es anders zu machen? Wie wird sich die sogenannte neue Normalität von der alten unterscheiden? Wieviel davon kann ich, kannst du, können wir gestalten?

© Daniela Krammer 2020-05-14