Neues Leben für das Haus

ratz

von ratz

Story
Melbeck, Lüneburger Heide 1985 – 1988

Zusammen mit dem Kollegen meines Mannes erstanden wir 1985 das verlassene Haus sehr güngstig bei einer Zwangsversteigerung. Als ältestes Haus im Dorf war es ein Denkmal und durfte deswegen nicht abgerissen werden. Und es war weit davon entfernt, bewohnbar zu sein. Das Dach musste, jedenfalls teilweise, neu eingedeckt werden. Der Schwellbaken auf der Westseite des Gebäudes war morsch. Das Innere des Hauses hatte der Vorbestizer teilweise entkernt. Der Rest bestand aus winzigen Zimmerchen und einer schmalen abenteuerlich steilen Treppe. Der Kollege und mein Mann waren die einzigen, die bei der Versteigerung etwas für das Haus boten. Ein sogenannter Schleuderparagraph verhinderte, dass wir es für eine D-Mark ersteigern konnten. Trotzdem erstanden wir es zu einem sehr, sehr günstigen Preis. In den folgenden zwei Jahren arbeiteten wir daran, das Haus bewohnbar zu machen. Das begann damit, dass wir viele Schubkarren voll Schutt nach draußen fuhren. Es gab Handwerker, die uns unterstützten, unter anderem einen Zimmermann, der sich mit alten Bauernhäusern auskannte, und einen Maurer, der Sinn für altes Gemäuer hatte. Beide verstanden ihr Handwerk, sahen sich aber mehr als Künstler und waren nicht regelmäßig am Bau. Der Maurer verschwand zwischendurch für mehrere Monate nach Gomera, um anschließend inspiriert weitermauern zu können. Aber vorher musste die westliche Wand komplett herausgenommen werden, um den verrotteten Schwellbaken zu ersetzen. Mit Metallstangen wurde währenddessen das Dach des Hauses abgestützt. Mit meinem dritten Kind, das ich in dieser Zeit bekam, auf dem Rücken, klopfte ich den nicht mehr brauchbaren Mörtel von den alten erhaltenswerten Ziegeln, die anschließend wieder neu vermauert wurden. In alten Wannen weichten wir Lehm und Stroh ein, womit man später die neuen Wände, die im Inneren errichtet wurden, verputzte. Die Havarie in Tschernobyl führte dazu, dass ich währenddessen mein zweites Kind, den knapp zweijährigen Sohn, besonders im Auge behalten musste, damit er sich nicht den möglicherweise verstrahlten Sand in den Mund stopfte, während der Älteste, sechsjährig durchaus schon nützliche Hinweise zur sinnvollen Organisation der Arbeit gab.

Im Sommer 1987 zogen wir mit drei kleinen Kindern in unser neues Zuhause, stellten unser Bett in der Diele auf, direkt gegenüber der Haustür, verhängten die Türöffnungen mit Decken, bis die Türen eingebaut werden konnten, die wir beim Abriss anderer alter Häuser aufgetrieben hatten. Es dauerte noch ein weiteres Jahr, bis das Haus eine neue Treppe erhalten und das Dachgeschoss ausgebaut war und die Kinder und wir zum Schlafen nach oben ziehen konnten. Aber die Freiheit, uns auf einem großen Grundstück ausbreiten zu können und die Freude daran, dass sich die Kinder ungehindert und (weitgehend) gefahrlos da bewegen konnten, genossen wir von Anfang an.


© ratz 2025-07-13

Genres
Biografien
Stimmung
Abenteuerlich, Herausfordernd, Emotional, Komisch
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