Neulich am See war ich demĂĽtige Zeugin eines Moments. Wo ich herkomme, gibt es einen Brauch: „Leichtrunk“, ein Trunk auf den Verstorbenen. Sowas gibt es wohl in jeder Gemeinschaft. Ein Versuch, das Absolute – den Moment des Todes, oder wie man ihn sich vorstellt – auszugleichen. Eine Gelegenheit den Momenten der Trauer die Freude geteilter Einsamkeiten zu schenken, Geschichten zu teilen, sich zu begegnen. Eine Gelegenheit fĂĽr wahrhaftiges Leben, dort wo auch Schlechtes noch gut sein kann und dabei schlecht bleiben darf. So in etwa hat es sich angefĂĽhlt, neulich, dort am See. Wir waren eine unwirkliche Truppe: Zwei Lehrer, eine Bankangestellte, eine Pensionistin, ein Beamter, eine Hausfrau, eine Managerin, zwei Psychologinnen und eine Juristin. Dazu ein Auszubildender, drei SchĂĽler und einige Wartende. Im Grunde war durch das Band der Freundschaft ein jeder der Truppe zum Wartenden geworden. Manche warteten auf eine Entscheidung, andere auf ein Kommen, wieder andere auf ein Gegangen werden oder Gehen. Ăśber allem lag der Atem der unendlichen Endlichkeit, der Momente kostbar macht. Und gemeinsam wurde dann dort am See gewartet. Ein schöner Ort zum Warten, selbst wenn das, worauf zu warten ist, es nicht ist. „Hier ist eine besondere Energie“, hatte schon die Kollegin vorab gemeint, deren Idee es war, dass diese verschiedenen Menschen sich an dem Ort treffen. Aus zumindest sechs Nationen, drei verschiedener Kontinente trafen wir uns dort in den Bergen Ă–sterreichs. FĂĽr einige Stunden Ruhe, um ĂĽber die Ă„ngste und Hoffnungen unserer Alltage zu sprechen. Einige hatten mehr Grund fĂĽr das eine, einige mehr Grund, um das andere zu tragen. Aber in einigen Momenten fĂĽhlte es sich an, als wĂĽrde alles miteinander getragen werden. Es, was immer es war, wurde erkannt und verstanden. Im Schutz der kleinen Bäume und groĂźen Berge erwachte Allports Vision um mich herum zum Leben. Wie die zweite Kollegin einmal zum Zweck des Projekts, in dessen Rahmen wir den Ausflug unternahmen, meinte: „Wenn wir einander kennenlernen, können wir auch lernen, miteinander zu leben.“ Nicht alle kannten sich zuvor schon persönlich, doch an diesem Tag fĂĽhlte es sich an, als wĂĽrde uns ein sicheres Schiff als Freunde ĂĽber das ruhige Wasser der Seen fĂĽhren. Ein paradoxes Bild fĂĽr die Menschen darin. Denn bis auf die Lehrerin, den Lehrer, die Bankangestellte, die Pensionistin, den leitenden Beamten, der Hausfrau, der Managerin, den beiden Psychologinnen und der Juristin, hatten alle Anwesenden bereits Wasser ĂĽberquert, die weitaus stĂĽrmischer waren. Auf Booten, die zu viele nicht trugen. Der Auszubildende, die drei SchĂĽler und die Wartenden hatten fernab ihrer Heimaten dabei noch selten Gelegenheit bekommen, diese Toten zu verabschieden. So taten wir es an diesem Tag. Betrauerten, das was war und das, was einige erwartete. Nicht der Tod – der auch, aber das ist ja nichts Besonderes -, sondern das Verlassen mĂĽssen. Wieder. Woanders hin, dorthin von wo aus sich der Mensch aufmachte. Und dorthin, wo der Mensch zuvor nie gewesen war. Dorthin wo er nicht sein wollte. Die Erkenntnis letztlich einmal mehr, dass geschriebenes Wort mehr zählt als das Leben selbst. Vielleicht ist es frech, sicher aber zu viel verlangt, trotzdem wĂĽnsche ich mir, nein, hoffe wenigstens, dass die Menschen, an die ich heute erinnere, aufgebrochen sind und leben. Nicht nur das: Ich hoffe, meine Freunde, dass ihr den Frieden gefunden habt.
© Franziska Kinskofer 2023-07-20