Neulich am Sprungturm

Franziska Kinskofer

von Franziska Kinskofer

Story
2019

Neulich am Sprungturm war ich beseelte Zeugin eines Moments. Der Tag, an dem ich dieses Mal zur Zeugin wurde – nein, eigentlich sind wir alle jeden Moment Zeugen – an dessen Zeugenschaft ich mich heute gern erinnere, war ein besonderer. Ein Tag den ich nicht mehr so erleben werde – nein, das stimmt nicht – dass ich ihn so nicht mehr erleben werde schon, aber dass ihn das besonders macht. Schließlich erlebt niemand irgendeinen Tag zweimal, dazu müsste man rückwärts leben. Selbst dann bleibt die Frage, ob man ihn somit zweimal erleben würde. So genau kenne ich mich nicht aus mit Zeitreisen. Ich verzettle mich, aber weiß jetzt, warum der Tag besonders war: Ich hatte mich an dem Tag entschieden. Mit der Entscheidung war ich glücklich, an diesem Tag sogar unbeschreiblich. Ich wollte in die Welt hinausschreien, dass Entscheidungen wunderbar sind, magisch. Es war eine große Entscheidung – die größte, die ich bisher getroffen hatte und dabei diejenige, für die ich die wenigste Zeit hatte – also unter den großen Entscheidungen. Letztlich, anfänglich aus heutiger Sicht, bin ich gesprungen. Unten angekommen hab ich unterschiedliche Dinge erfahren: Die Härte des Wassers beim Aufprall hängt von der eigenen Körper-Spannung ab; die Kälte des Wassers ist beim Sprung kaum zu spüren; die Temperatur des Wassers hängt von den Temperaturen jener Zeit ab; oben im Wasser kann, abhängig von der eigenen Position, unten werden; Wasser schmerzt, schluckt man es nicht aus freien Stücken und die Angst vor dem Schmerz – also den, den man erwartet zu spüren – kann einen manchmal beinah vom Springen abhalten. An diesem Tag stand, nicht lange nach der Entscheidung, neben mir ein junger Mensch. Das ist schwammig und bedeutet für jeden etwas anderes. Damit wir im Wesentlichen vom Gleichen sprechen: Er war in etwa 10 Jahre alt, genau weiß ich es nicht. Was ich weiß ist, dass der Mensch, ein sportliches Mädchen war – und, so hoffe ich, noch ist. Jedenfalls weiß ich, dass ich das dachte und sie das Sportlichsein ebenfalls bejahte. Ich war auf sie aufmerksam geworden, als sie zum zweiten Mal, kurz vor Ende des kleinen Podests in drei Metern Höhe, abrupt Halt machte. Das zweite Zögern legte bereits eine Spur Verdrossenheit in ihre Augenwinkel. So hatte ich sie angesprochen, um ein wenig des Glücks dieses Tages zu teilen. So stellte ich die zweite Frage auf ihrem Weg zum Sprung – in dem Moment als ich sie gestellt habe war mir weit weniger bewusst als heute, dass wir beide an dem Tag gesprungen sein werden. So fragte ich sie, ob sie schonmal weit gesprungen sei, also das Weitspringen in der Leichtathletik. Sie nickte und schaute mich aufmerksam an. Ich sagte, dass von dem Sprungturm springen ein bisschen sei wie Weitspringen – beim Anlaufen. Sobald man dann gesprungen sei, würde es ein wenig anders. Man müsse sich gut auf sich konzentrieren, die Füße Richtung Boden richten (außer man wollte beim ersten Sprung gleich akrobatisch werden) und die Hände eng am Körper halten. Am besten sei es, wenn man seine Konzentration nutze, um die eigene Körperspannung aufrecht zu halten. Das helfe auch bei der Angst. Zuletzt und wenn man dann eingetaucht sei, brauche man nur kurz strampeln, um den Kopf über Wasser zu bekommen. Je mehr Konzentration und je weniger Angst, desto leichter würde das sein. Ich stellte ihr eine letzte Frage: Bist du eine gute Schwimmerin? Sie nickte, blickte zum Ende des Turms, atmete tief ein. Dann lief sie los.

© Franziska Kinskofer 2023-08-20

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Unbeschwert, Challenging
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