von Anné Murrer
Oft ist es bei Krebskranken so, dass sie vor ihrem Tod noch einmal eine Art Aufbäumen ihres Körpers erfahren, in denen es ihnen so gut geht, als wären sie vollkommen gesund. Bei meiner Mutter war das nicht anders und wir nutzten diese Zeit, um ihr noch einen Herzenswunsch zu erfüllen. Wir flogen in den Urlaub nach Kuba. Wir wussten alle, dass es der letzte Urlaub meiner Mutter sein würde, also waren wir fest entschlossen ihn in vollen Zügen zu genießen. Obwohl wir keineswegs wohlhabend waren, machten meine Eltern den Urlaub doch irgendwie möglich. Wir machten Ausflüge, schwammen mit Delfinen, ließen uns das gute Essen schmecken und genossen das Ambiente. Als wir wieder zu Hause waren, war es Mamas Wunsch, dass ich zu meinem achtzehnten Geburtstag ein Klavier bekommen sollte. Mit der Unterstützung meiner Großeltern durfte ich mir schließlich eins aussuchen. Es war ein wunderschönes, schwarzes Klavier von Yamaha mit vollem Klang, das bereits Monate vor meinem Geburtstag zu uns geliefert wurde. Danach dauerte es nicht lange und meine Mutter kam schließlich ins Krankenhaus und wurde dort auf die Palliativstation verlegt, wo wir sie so oft wie möglich besuchten. Manchmal kam es dennoch vor, dass ich einen Besuch verweigerte. Zu viele Hausaufgaben, eine anstehende Prüfung… Meine Ausreden waren selten gelogen. Dennoch ist es bezeichnend, wenn man sich lieber um Schulsachen kümmerte, als die letzten Tage der sterbenden Mutter mit ihr gemeinsam zu verbringen. Irgendwann musste ich meine Vermeidungstaktik jedoch aufgeben, denn Mama wollte auf keinen Fall im Krankenhaus sterben, was man natürlich respektierte. Also wurde ihr Krankenbett in unser Wohnzimmer verlegt und eine Pflegerin kam täglich vorbei, um sich um sie zu kümmern. Ein Großteil der Arbeit fiel dennoch meinen Vater zu. Da im Bereich ihres Unterleibs nichts mehr funktionstüchtig war, hatte man Mama ein Stoma verpasst, also eine Art künstlichen Darmausgangs, der natürlich gesäubert werden musste. Ich hatte mir lange Zeit nie Gedanken darüber gemacht, wie belastend das für Papa gewesen sein muss. Ich war so sehr in meiner eigenen Misere gefangen, dass ich mir um die Anderen keine Gedanken machte. Nicht einmal darüber, wie es meiner Mutter ging. Irgendwann, viele Monate später, fand ich einen Text, den sie auf der Rückseite eines Dokuments verfasst hatte. Den genauen Wortlaut kann ich nicht wiedergeben, doch sie schrieb hauptsächlich darüber, dass sie so viel Blut verlor. Blut, überall nur Blut. Es sei erstaunlich, wie viel davon ein Mensch verlieren konnte. Mama musste unendlich gelitten haben. Und dennoch habe ich sie nie gefragt, wie es ihr wirklich geht.
© Anné Murrer 2023-08-25