von Araldo Campana
Man hört mich schon von weitem. Wenn ich in Eile bin, hänge ich den Karabiner meines Schlüsselbundes in die vordere rechte Hosentasche. Mit jedem Schritt klappern die unzähligen Schlüssel an meinem Bund.
Seit gestern fällt mir etwas auf. Nils bleibt stehen, wenn er mich daherklimpern hört. Er kam heute von der Garderobe die Stiege hoch, um in den ersten Stock zu gelangen. Auch ich wollte dorthin und klimperte flott zur Stiege, ich war wegen dem Antigentest spät dran. Er blieb verborgen hinter einer Säule stehen und wartete, bis ich mich weit genug entfernt hatte.
Vorgestern wäre es mir nicht aufgefallen, doch seit gestern ist das anders. Und dann ist noch etwas anders. Wir arbeiten gerade an einem Wochenplan. Wenn die Kids eine Aufgabe fertig haben, kommen sie vor und zeigen ihre Arbeiten. Am Pult sitzt mein Kollege, ich hole daher einen Tisch vom Gang und stelle ihn vor die Tafel. Mir gegenüber sitzt Nils in der ersten Reihe. Vorgestern hatte ich noch den Schlüsselbund neben mir am Tisch, heute nicht mehr.
Der Schlüsselbund hat eine lange Geschichte. Die ersten Schlüssel hatten noch in meiner Hosentasche platz, doch das änderte sich recht bald. Weil ich viele verschiedene Räume in mehreren Schulgebäuden öffnen muss und wir ein unsägliches Schließsystem an der Schule haben, brauche ich fast für alle Räume einen anderen Schlüssel. Meine Hosentaschen waren bald allesamt ruiniert, zudem tat das Metallknäuel in der Tasche weh. So holte ich einen Karabiner meiner Kletterausrüstung aus dem Keller und hängte die Schlüssel daran auf. Wenn ich nicht in Eile bin, klicke ich den Karabiner in meine Gürtelschlaufe rechts. Das hat zudem den Vorteil, dass ich seitdem keinen Schlüssel mehr verlege.
Allerdings sehe ich mit meinem Schlüsselbund wie ein Gefängniswärter aus. Der Heilige Petrus würde erblassen, wenn ich meine Schlüsselsammlung gen Himmelspforte mitnehmen dürfte.
Als ich einmal gegenüber einem der alten, weisen Männer unseres Dorfes über meinen unmöglichen Schlüsselbund jammerte, grinste er schelmisch und meinte: “Tja, dir vertraut man. Du darfst viele Türen öffnen.” So hatte ich es noch nie gesehen.
Zurück zu Nils. Gestern war Elternsprechtag. Mein Teamteacher hatte ein Gespräch mit seiner Mutter. Dabei eröffnete sie ihm: “Wissen Sie, Herr Geiger, mein Sohn hat ein Problem mit Herrn Campana. Nein, nicht dass Sie mich falsch verstehen, es ist nicht Herr Campana selber, es ist sein riesiger Schlüsselbund! Wissen Sie, mein Sohn leidet an einer SCHLÜSSELPHOBIE. Wir sind deswegen schon in Therapie. Ich denke, Sie sollten das wissen.”
Jetzt weiß ich es auch und jetzt weiß ich, warum er mich neulich so entsetzt angeschaut hat. Die Kinder warteten nach der Pause in einer großen Traube vor der versperrten Klasse. Weil ich mich nicht durchdrängen wollte, drückte ich dem entsetzten Nils den Schlüsselbund in die Hand, um aufzusperren.
Wenn ich das gewusst hätte …
© Araldo Campana 2021-11-25