von Beate Schilcher
Er wartet auf die Ärztin, hat eine Vorladung zur Untersuchung. Ein kraushaariges Schwergewicht, erinnert er an die Figur des Rubeus Hagrid aus Harry Potter. Er ist Busfahrer, im Langzeitkrankenstand. Mit verschränkten Beinen hockt er da, der Blick schweift durchs Wartezimmer. Dann packt er sein Strickzeug aus. Einige Male ist er schon hier gewesen. Es waren kurze Termine, er hat Fragen nur knapp beantwortet. Heute ist er gesprächig. Ein Kollege hat ihm gesagt, mit der Ärztin könne mann reden. Also erzählt er seine Geschichte. Das kleine Mädchen, seine Tochter, ist schwerstbehindert zur Welt gekommen, die Beziehung zur Frau daran zerbrochen. Er ist seit Jahren Alleinerzieher. Weil die Behinderung Vollzeitpflege erfordert, ist das Mädel während der Woche im Heim. Am Wochenende holt er sie nach Hause. Ist traurig, wenn er sie sonntagabends wieder im Heim „abgeben“ muss. Oft genug pflegen und wickeln sie dort die Kleine nicht so, wie es sich gehört. Dann liegt sie feucht. Er wickelt sie von neuem. Er hat Rückenschmerzen. Stricken beruhigt ihn. Er ist dankbar, dass die Ärztin ihn anhört.
Der andere kommt trotz Vorschrift ohne Maske zur Frau Doktor. Wenn er gezwungen wird, die aufzusetzen, zuckt er aus. Weil, sagt er, das brauche er nicht noch zusätzlich zu den Strahlen, die sie ihm schicken, um sein Gehirn zum Schmelzen zu bringen. Sein gespaltenes Ich ist in voller Blüte. Sie werden ihn aufgrund der Depression in Frühpension schicken.
Einem anderen ist eine Frau vor den Zug gelaufen. Sie war vorschriftswidrig auf den Gleisen unterwegs, zwischen seinem und einem anderen Zug. Er hat sie nicht rechtzeitig gesehen. Nicht rechtzeitig gebremst. Er wird verurteilt. Bruchteile von Sekunden haben ihr Leben beendet und seines für immer verändert.
Eine ältere Frau wartet im Gemeindespital auf die OP, von der sie sich endlich Linderung der jahrelangen Schmerzen erhofft. Immer wieder wird ihr OP Termin verschoben. Andere, zahlungskräftige, werden vorgezogen. Ein undurchschaubares System. Ihr Mann kommt sie jeden Tag besuchen, selber krumm und hinkend, im verfrühten Ruhestand. Als Taxifahrer hat er damals einen Überfall beobachtet: wie zwei Männer einen dritten brutal am Straßenrand zusammenschlagen. Er ist aus dem Taxi gestiegen, um zu helfen. Sie haben ihn bewusstlos geprügelt. Ihn arbeitsunfähig gemacht. Sind unerkannt davongekommen. Seine Versicherung zahlt nicht: Er sei selber schuld. Er hätte nicht aussteigen dürfen. Seiner Frau bringt er täglich etwas mit. Schokolade, Blumen, eine Zeitschrift. Er ist höflich, spricht mit sanfter, gedämpfter Stimme, will niemanden stören. Irgendwann erzählt die Frau seine Geschichte.
Bruchteile von Sekunden können über ein Leben entscheiden. Die einen kommen davon. Die anderen haben ihr Rendezvous mit dem Schicksal.
„Ain’t no use to sit and wonder why, babe.” (Bob Dylan)
© Beate Schilcher 2022-10-18