von Büchermädchen
Wieso starrt der mich an?
Ich stehe vor meinem Spind im Keller der Schule, drei Bücher in der einen Hand und versuche mit der anderen das Schloss zu schließen, während meine Augen den Flur entlang wandern. Der Typ, der ein paar Meter von mir entfernt steht, öffnet jetzt seinen Rucksack, legt zwei Mappen in seinen Spind und nimmt dann ein paar Bücher heraus. Drei. Vier. Fünf. Wieso fünf? Ruckartig reiße ich das kleine Türchen wieder auf und nehme ebenfalls noch zwei Bücher heraus. Zwei, die für meine nächsten paar Stunden völlig unnötig sind. Glaubt der etwa, dass er mehr tragen kann als ich?
Als mein Blick wieder zu ihm fällt, ruhen seine Augen direkt auf mir. Ein Schauer läuft meinen Körper hinunter. Was zur Hölle will der Typ? Ich strecke meinen Rücken durch, straffe meine Schultern und spanne meine Muskeln an. Er kann gerne sehen, dass ich die letzten Wochen Überstunden im Fitnessstudio gemacht habe. Da kommt er mit seinen dürren Beinen und den untrainierten Armen niemals ran. Auf einmal beginnt der Typ auch noch zu grinsen. Über mich? Lacht er mich aus? Sehe ich dumm aus, wenn ich meinen Körper so anspanne? Sollte ich das mit dem Fitnessstudio in Zukunft wieder lassen?
Oh nein. Er kommt auf mich zu. Ich schlucke. Mein Herz rast in meiner Brust. Was wird er sagen? Ich glaube, er ist älter als ich. Ein, vielleicht auch zwei Jahrgänge über mir. Will er sich über mich lustig machen? So wie mein Vater, als ich ihm erzählt habe, dass ich jetzt Muskeltraining mache. »Training? Du? Pha, dass ich nicht lache. Aus dir wird sowieso nichts«, hat er damals spöttisch gesagt. Er wird das Gleiche sagen. Er wird mich für einen Versager halten. Ich höre meinen eigenen Puls. Meine Ohren rauschen. Er kommt immer näher. Er grinst noch immer. Er… er… geht an mir vorbei?
Mein Atem zittert, als ich langsam die angehaltene Luft aus meinen Lungen lasse. Ich neige meinen Kopf etwas nach hinten. Der Junge lacht. Er hat seinen Arm um die Schulter eines Mädchens gelegt und hält ihre Jacke in der linken Hand, während sie in ihre Tasche greift und einen Schlüssel herausholt. Einen Moment bin ich sprachlos. Dann nehme ich meinen Rucksack und verlasse so schnell wie nur möglich den Keller.
Auf dem Weg zu meinem Klassenzimmer laufe ich an Victoria vorbei. Sie hält das Buch über die literarische Verbreitung der griechischen Götter in der Hand. Verdammt! Wir schreiben heute einen Test über das Thema. Victoria ist die Jüngste unserer Klasse. Sie ist fast einen Kopf kleiner als ich und wiegt vermutlich auch nur halb so viel. Dafür hat sie von uns allen die besten Noten. Und lernt auch dementsprechend viel. Mit einem Schritt bin ich bei ihr, nehme ihr das Buch aus der Hand und grinse sie an.
»Genug gelernt für heute, Streber. Wir wollen ja nicht, dass dein Gehirn noch platzt.« Ich lege ihr sauber eingebundenes Buch auf meinem Kopf ab und beginne es dort zu balancieren. »Nick!«, ruft sie. »Lass das.« Ich denke nicht mal dran. »Gib mir mein Buch!«
»Nimm es doch!«
© Büchermädchen 2022-08-25