von Jörg Krämer
Wir schreiben das Jahr 2237. Liebe ist verboten. Kinder kommen nur noch aus der Retorte. Mit ihren 37 Jahren gehört Merit zu den letzten, die noch natürlich geboren wurden. Als sie noch ein kleines Kind war, hat ihre Oma ihr Geschichten von Wäldern, Seen und vielen Tieren erzählt. „Großpapa und ich haben im Wald weit draußen vor der Stadt jeden Monat einmal ein Picknick gemacht.“ Dann holte Oma ihren alten Picknickkorb aus dem Keller und erklärte der kleinen Merit, was alles zu einem guten Picknick gehört. Heute muss Merit ständig an die Geschichten ihrer Oma denken. Ihre Gedanken kreisen. Natürlich nur ihre Gedanken. Seit bestimmt fünfzig Jahren hat kein Mensch mehr einen Fuß vor die Stadtmauern gesetzt. Es heißt, fürchterliche Kreaturen würden in der Wildnis hausen. Deshalb seien die Stadtmauern auch so intensiv bewacht. Zumindest behauptet das der Stadtrat. Warum mehrere Menschen erschossen wurden, als sie aus der Stadt wollten, konnte indes niemand erklären. Mittags klingelt sie bei Jan, ihrem Nachbarn im 79. Stock. Merit kennt ihn kaum. Er lächelt sie immer sehnsüchtig an und scheint nett zu sein. Außerdem kennt sie sonst niemanden. Familie hat sie nicht. „Lust auf nen Kaffee?“, fragt sie. Jan ist überrascht. „Ja, klar. Warum nicht? Jetzt sofort?“ „Ja, jetzt.“ Zusammen gehen sie in ihr Appartement. Jan ist ganz aufgeregt. Er steht auf Merit. Er hat sich nur noch nicht getraut, es ihr zu sagen. Angst hat er auch. Liebe wird heutzutage schwer bestraft. Nach dem dritten Gin Tonic erzählt Merit ihm von ihrer Großmutter und zeigt ihm den Picknickkorb. Jan steigt der Geruch von frischem Brot in die Nase. „Kommst du mit?“ „Wohin?“ Jan ist irritiert. Erst langsam verbindet er ihre Frage mit dem Picknickkorb. „Nur ein wenig Freiheit.“ Merit lächelt Jan an. Da ist es um ihn geschehen. „Okay.“ Seine Antwort kommt, ohne nachzudenken. „Kennst du einen Weg? Sie sagen, die Wachen erschießen jeden, der die Stadt verlässt.“ „Ja. Aber frag nicht weiter.“ Kurz darauf ziehen sie los. Sie betreten eine still gelegte Seifenfabrik. Merit klettert voran in den Keller. Nur ihre kleine Taschenlampe spendet Licht. Überall sind leise, scharrende Geräusche zu hören. Dann klettern sie in ein Rohr mit mindestens zwei Metern Durchmesser. „Wo kommen wir raus?“, fragt Jan. „Na ja, weiter als bis hier war ich noch nicht.“ „Und wenn das eine Sackgasse ist?“ Mit Jans Ruhe ist es wieder vorbei. „Dann drehn wir um.“ Merit geht vor. Zehn Minuten später treten sie ins Freie. Dreißig Meter vor ihnen liegt der Wald. Dazwischen freie Wiese. „Und jetzt?“ Jan schwitzt. „Wir gehen.“ Merit bewegt sich auf den Wald zu. Jede Wache, die in ihre Richtung blickt, wird sie augenblicklich entdecken. Jan ist sofort neben ihr. Die dreißig Meter kommen ihnen wie Kilometer vor. Der Wald scheint nicht näherzukommen. Dann endlich! Sie erreichen den Waldrand. Beide atmen hörbar durch. Ganz ruhig machen sie sich auf die Suche nach dem Platz für ihr Picknick. Schnell werden sie fündig. Ihre Lichtung! Nicht groß, aber voller Blüten. Die Sonne scheint durch die Blätter. Es ist ganz still. Den ganzen Tag genießen sie die Zweisamkeit. Es ist der romantischste Tag ihres Lebens. Der Tag gipfelt bei Einbruch der Dämmerung in einem innigen Kuss. „Wir müssen los.“ Jan fasst Merits Hand. Merit schaut ihm lange tief in die Augen. „Welche Richtung?“
© Jörg Krämer 2023-12-22