von OpheliaCoith
“Lara, ich geh eine Runde spazieren. Willst du mit?”, fragte Madison. Das Mädchen zog eine Daunenjacke über ihren schmalen Leib. Eingepackt in der Winterkleidung wirkte ihr Körper fast normal. Lara drehte ihren Kopf wieder so, dass sie erneut auf die Decke über sich starrte. Vor zwei Stunden hatte sie entdeckt, dass ein Teil der Tapete abgebröckelt war.
“Nein, heute nicht”, murmelte Lara und blinzelte die Tränen, die sich in ihren Augen sammelten, weg. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, jeden Tag herauszugehen. Eine kleine Runde über das Klinikgelände, mehr nicht. Die frische Luft und das Licht taten ihr gut, das wusste sie. Aber es war, als würde sie festkleben. Ihr Körper war schwer, wie mit Zement gefüllt, und als wäre das nicht genug, erdrückte sie auch noch eine unsichtbare Last. Sie hatte schon tagelang darüber nachgegrübelt, was es war, das sie belastete. Nichts war geschehen, nichts Großes zumindest. Aber dennoch spürte sie permanent diese lähmende Traurigkeit. Diese Wertlosigkeit. Nicht einmal aufstehen konnte sie, geschweige denn spazieren gehen. Es war zu viel, eine Träne rann über ihr Gesicht.
“Bist du dir sicher? Es würde dir bestimmt gut tun”, meinte nun Madison, ihre Stimme war ganz weich, als spreche sie zu einem Kind.
“Ja“, flüsterte Lara. Ihre eigene Stimme klang erstickt und dünn. “Ich bin müde. Ich glaube, ich schlafe noch ein bisschen.”
“Okay, wie du meinst”, entgegnete Madison, kurz darauf hörte sie die Tür ins Schloss fallen. Kurz verspürte sie Erleichterung, doch direkt darauf schwappte eine Welle der Enttäuschung über sie hinweg. Madison hatte es wirklich versucht, sie hatte es gut gemeint. Sie war nicht dumm, ihr war sicherlich klar, wie schwer es Lara an manchen Tagen fiel, allein aufzustehen. Lara rollte sich zusammen wie eine Katze und ließ den Tränen freien Lauf. Es war okay, sagte sie sich selbst. Es ist okay, traurig zu sein und enttäuscht. Es wird vorübergehen, diese beschissene Depression. Und dann würde sie wieder nach draußen gehen und die Welt besteigen. Eines Tages, ganz gewiss.
© OpheliaCoith 2021-02-17