von MelBAnders
Eigentlich mache ich das nicht. Im Normalfall würde ich es ignorieren, würde mich auf die andere Seite drehen und mich weiter beim Fast-Sterben und Definitiv-nicht-Leben bemitleiden. Vielleicht ist es Karma, als ich den Kampf zwischen Ablehnen und Annehmen mit einem Überraschungssieg für Annehmen entscheide. Die Menge tobt. Ich hebe das Smartphone ans Ohr, noch immer unentschlossen, ob ich wirklich telefonieren will – und lasse mir prompt ‘ne Ladung Anstandsanruf ins Ohr schießen.
„Ich hab’s gerade erst erfahren. Du Arme. Hat’s dich erwischt?“ Mein genuscheltes „Ja“, gefolgt von einem lungenumkrempelnden Husten, reicht aus, um den Wortschwall und die Fragefreudigkeit einer Freundin der unehelichen Schwester meiner Cousine, kurz: meiner sehr guten – aber nicht sehr netten – Bekannten aus dem Sommerferienlager von vor über zehn Jahren anzufeuern. „Seit wann weißt du es schon? Weißt du, bei wem du dich angesteckt hast? In diesen Zeiten ist das ja alles so unübersichtlich. Bist jetzt erstmal ‘ne Woche auf dich allein gestellt, ne? Quarantäne? Haste wenigstens erstmal deine Ruh, auch wenn du Coro-“
„Kein Corona.“ Ich hasse dieses Wort, aber bevor ich mir weiter Statistiken und alles über die neueste C-Varianten-Mode anhören darf, stelle ich es richtig. „‘ne Grippe.“
Die Stille in der Leitung ist ohrenbetäubend.
„Achso.“ Ich kann ihr Augenverdrehen fast durch die Leitung sehen. Ihr leises Schnauben klingt abfällig, als hätte ich gesagt, dass ich an einem Wurf ausgesetzter Welpen vorbeigefahren wäre – und dann noch einmal rückwärts und mit den Reifen direkt darüber. „Nur ‘ne Grippe. Na dann trink halt Tee.“
Das tue ich.
Ich trinke Tee, putze mir die Nase, schmiere mir die Brust dreimal täglich ein. Mit Eukalyptusöl, weil Atmen gerade keine Selbstverständlichkeit ist. Ich wache morgens auf, hämmernde Schmerzen hinter den Schläfen, fühle Areale in meinem Körper, die sonst keinen Ton von sich geben und zittere in der einen Sekunde wie Espenlaub, um in der nächsten Socken, Wohlfühl-Decke und zweite Mir-ist-immer-noch-kalt-Decke von mir zu schleudern, weil mein Körper in Flammen zu stehen scheint – um mir von einer doofen Kuh am anderen Ende der Leitung sagen zu lassen, ich hätte „nur ‘ne Grippe“?
Ich lege auf. Kein „Tschüss“, kein „Bis bald“.
Das ist nicht „nur ‘ne Grippe“. Ich könnte den ganzen Tag heulen, aber davon bekomme ich auch nicht besser Luft. Das ist keine Männergrippe. Nicht, weil ich kein Mann bin, sondern weil ich nicht überreagiere, wenn ich sage, dass sich so Sterben anfühlen muss.
„Nur ‘ne Grippe“ – Ich kann es nicht mal denken, ohne im Kopf dabei mit Mimik und Gestik die Dummheit dieser Aussage zu unterstreichen. Als würde man sagen: „Hey, nur ein Schlaganfall“ und würde eigentlich meinen: „Stell dich nicht so an. Andere Leute haben Hirntumore.“
„Nur ‘ne Grippe“ – das kotzt mich so an! Nur wegen C bin ich mit Grippe auf einmal nicht mehr gut genug als Kranke? Simulantin?
DAS ist krank!
© MelBAnders 2022-04-03