Nutellabrot-Trauma

Tanja Gitta Sattler

von Tanja Gitta Sattler

Story

Heute möchte ich euch eine Geschichte aus der Kindheit meines Milans beichten. Er ist jetzt 23 Jahre alt und erzählt sie immer wieder. Ich schäme mich jedesmal zu Tode – ein echtes Trauma …!

Ach, Leute, es war einfach herrlich ‘Kind zu sein’. Stundenlang hat die liebe Mama mir vorgelesen oder Geschichten für mich erfunden. Wurde sie müde, gerieten ihre Fantasie etwas aus den Fugen, dann galoppierten zum Beispiel irgendwelche Nashörner durchs Feenland, um böse Hotzenplotze aufzuspießen. Aber das war gar nicht schlimm. Hauptsache, sie war bei mir. Beim Spazieren gehen, hat sie mich stets auf schöne Blumen aufmerksam gemacht. Vor allem auf Rosen und wie gut sie riechen würden. Leider stachen mich die garstigen Biester mit ihren Dornen in die Nase. Ich war sauer. Aber ach, wie lieb Mama mich tröstete. Sie war ein Engel!

An Regentagen hat sie mir Farben erklärt und Zählen beigebracht, mithilfe bunter Bauklötzchen. Stundenlang haben wir Playmobil gespielt, herrliche Welten aufgebaut. Unsere Piraten, Ritter und Wikinger trugen unzählige Schlachten aus, viele Prinzessinnen wurden erlöst, ganze Dörfer befreit. Leider ist Mama dabei immer eingeschlafen. Mitten in der Szene ist sie einfach weggeknackt. Wo es doch so spannend war! Ich schmollte! Zum Trost gab es ein Eis oder ein Nutella-Brot. Liebe geht durch den Magen, also, alles wieder gut!

Sie schaffte es immer, mich zum Lachen zu bringen. Aber wehe, ich war unhöflich. Wenn ich ein Bonbon angeboten bekam und – da eins schließlich keins ist – fragte: „Wieviele darf ich?“ oder mir ungefragt eine Handvoll grapschte, wurde sie zur Furie! Ich lernte “Danke” und “Bitte” zu sagen. Das war lästig, aber wenn sie mich lobte, war ich stolz wie Oskar. Fast schien mir Mama eine Heilige zu sein.

Da sie oft auf der Bühne stand, achtete sie sehr auf ihr Äußeres. Sie backte leckere Kuchen, aß selbst aber kein einziges Stück, auch kein Eis oder Nutella-Brot. Für mich unvorstellbar! Sie schien so tapfer und stark, ein echtes Vorbild! Ich war so stolz auf sie!

Eines Tages, ich fragte, ob wir zusammen Playmobil spielen, bat sie mich ins Kinderzimmer zu gehen, sie käme gleich nach. Ich wartete, begann Figuren aufzustellen, mir tollkühne Szenen auszudenken, Mama kam nicht. Langsam machte ich mir Sorgen. Wo blieb sie nur? Vielleicht war ihr etwas passiert? Panik überfiel mich, schreckliche Bilder tanzten vor meinem inneren Auge. Ich raste die Treppe zur Küche hinab und riss die Tür auf. Es war noch schlimmer als befürchtet – ein wahrer Albtraum!

Da stand sie und schob sich ein riesiges Nutella-Brot in den Rachen. “MAMA, DU LÜGST JA!”, schrie ich. Ihr Heiligenschein zersprang in tausend Teile.

So erlebte Milan die erste große Enttäuschung seines Lebens. Mit Schwäche konfrontiert zu werden, wo er bloß Stärke und Vollkommenheit vermutete, war für den Bub schockierend. Zum Glück können wir beide heute herzlich darüber lachen. Doch seltsamerweise wird das Nutella-Brot immer größer, je öfter er davon erzählt …

© Tanja Gitta Sattler 2021-03-31

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