O Captain, mein Captain

Caroline

von Caroline

Story

Leise beginnen die ersten Töne der Hintergrundmusik zu klingen. Den Blick fest auf das Pult geheftet, ringen Angst und aufkeimender Mut um den Durchbruch. Die Lautstärke der Musik nimmt zu. Die gestaute Energie wandert nach oben. Sie erreicht nun den Kehlkopf. Die Blockade sitzt tief. Zwang und Unterordnung haben sich eingebrannt. Sie halten das Aufbegehren in Zaum. Sie zwingen zum Schweigen. Das Kribbeln breitet sich über die Wangen aus. Tränen steigen in die Augen. Der ganze Körper zum Bersten vor Spannung. Unerträglich. Strebend nach Erlösung. Und plötzlich: Diese Einfachheit. Beinahe Gelassenheit. Die Entscheidung ist gefallen.

Der Damm ist gebrochen. Mit festem Tritt setzt Todd Anderson das erste Bein auf den Stuhl. Das Zweite auf den Tisch. Eine kleine Drehung hin zur Tür – und sein Stand ist fest. „O Captain, mein Captain!“

Ich breche in leise, doch hemmungslose Tränen aus. Mein Kloß im Hals löst sich auf. Befreiung. Ich werfe den Kopf ungläubig hin und her, um all die Berührung und Anspannung abzuschütteln. Die tiefe Resonanz im Ringen um den Durchbruch. Das Aufstehen. Das Eintreten für die eigene Überzeugung. Lachen mischt sich nun mit Erleichterung. Rührung mit Respekt. Achtung mit Entschlossenheit.

Wie oft habe ich diese Schlusssequenz des Klubs der toten Dichter nicht schon gesehen? 10 Mal? 20? Und immer wieder ergreift mich dieser Moment. Rüttelt an meinen Grundfesten, meiner Kontenance. Ich kann mich der Macht nicht entziehen.

Und ich will es nicht.

Denn es ist eine Macht im besten Sinne. Eine, die wir jeden Tag – und immer wieder aufs Neue – benötigen. Die den unaufhaltsamen Wandel positiv fördert, und nicht hemmt. Die das Beste im Menschen zutage bringt, und sich nicht im Schatten verliert. Eine Kraft der Erneuerung, und nicht des Stillstandes. Des Loslassens, und nicht des Klammerns an Überholtem. Eine, die es zu ergreifen gilt.

Es ist die Macht der Berührung und der Berührbarkeit. Der tiefen Resonanz. Der Verbundenheit aller Menschen. Und damit unser aller Ermächtigung.  

Wofür stehe ich mit meinem Leben? Welchen Respekt zolle ich abends meinem Spiegelbild? Wofür steige ich auf das Pult?

Unsere Leben sind so vielfältig, wie es Menschen gibt. Unsere persönlichen Herausforderungen ebenso. Doch ich bin davon überzeugt, dass es in jedem Leben diesen Punkt des Aufstehens gibt. Einmal. Und auch immer wieder. Es lohnt sich. Wenn die Schwelle überschritten ist, ist es ganz einfach. Die Hintergrundmusik beginnt leise zu klingen. Welcher Moment ist deiner?


© Caroline 2023-06-24

Genres
Romane & Erzählungen