Oblivion

Margot Lamers-Zigan

von Margot Lamers-Zigan

Story
Landshut

Eine SchweiĂźperle rann ihren Hals hinab, in das perlenverzierte DekolletĂ©, rollte hinunter ĂĽber erhitzte Haut und verschwand zwischen ihren BrĂĽsten. Konzentriert wiegte sie ihren Oberkörper im Takt der Musik, die Augen empathisch geschlossen. Ihr bloĂźer Arm fuhr mit zunehmendem Tempo auf und ab, die schmalen Handgelenke fĂĽhrten elegant den Bogen und trieben schmachtende Vibrati ĂĽber die langen Elfenbeinfinger auf die Saiten der bernsteinglänzenden Violine. So unaufdringlich wie unverzichtbar schwollen die Harmonien des Bandoneons in ebenbĂĽrtiger Begleitung zu dem seufzenden Lied der Geige an und ab. Welch ein GlĂĽck, dass dieser Argentinier zu seinen Leisten gefunden hatte! Dann Stille. Es war das letzte StĂĽck des Abends und der krönende Abschluss einer Nacht der Romantik. Das Wasser, das Rachmaninow in die Augen getrieben hatte, lieĂź Piazzolla unweigerlich ĂĽber Wangen rollen. Derweil prasselten in perfekter Ergänzung Regentropfen auf das Dach des Theaterzelts, unterstrich das Donnergrollen eines frĂĽhsommerlichen Gewitters die dramatischen Höhepunkte des Konzerts. Das Publikum erwies sich unbeeindruckt von der angestauten Hitze und der zusätzlichen Geräuschkulisse. Die Sanierung des Stadttheaters stand aufgrund klammer Kassen seit Jahren still, mittlerweile war bereits das als temporärer Ersatz errichtete Zelt renovierungsbedĂĽrftig. „Am längsten hält das Provisorium“, sinnierte Izumi und lieĂź ihren Blick durch die nur lĂĽckenhaft besetzten Reihen des Saals schweifen in der Hoffnung, einen kurzen Blick auf Ilayda werfen zu können. Doch das Scheinwerferlicht blendete sie.
Unruhig rutschte die Gesuchte auf ihrem Sitz hin und her. Der Kunststoff des Samtimitats scheuerte unangenehm auf der Haut ihrer Oberschenkel, die dĂĽnne Strumpfhose bot wenig Schutz, der plissierte Rock des knielangen, bunt gemusterten Partykleids war hoch gerutscht. Sie fĂĽhlte sich underdressed angesichts der bodenlangen Abendroben der KĂĽnstlerinnen auf der BĂĽhne. Andererseits – wozu der feine Zwirn im Zirkuszelt, dachte sie trotzig und setzte sich auf ihre Hände, um ihren Zappeldrang zu zĂĽgeln. Ein altbewährter Trick aus Kindertagen. Während des Konzerts hatte sie wie so oft alles um sich herum vergessen, doch kaum hatte die Musik ausgesetzt, gewannen unzählige Irritationen die Oberhand. In der Pause war sie sofort aufgesprungen und bei der Flucht aus ihrer Zwangslage einem silberhaarigen Herrn auf die Spitze des polierten Lackschuhs getreten. Als sie nach dem zweiten Gong an ihren Platz zurĂĽckkehrte, vermied sie den Blickkontakt.
Musik und Izumi waren das Einzige, was sie zur Ruhe kommen und alles um sich herum vergessen ließ, dachte sie, als sie zum Ausgang strebte. Nicht und, korrigierte sie sich: Izumi WAR Musik. An die Motorhaube ihres verrosteten Golfs gelehnt, ergab sie sich dem Warten, dem hässlichen Bruder der Geduld. Der Regen hatte wieder eingesetzt, feiner Niesel benetzte ihr Gesicht und legte sich auf den Stoff ihres Kleides.
Und da war sie: Schön wie ein Sternenhimmel, den Geigenkoffer in der rechten Hand, das hochgesteckte, nachtblaue Haar nun offen über die Schultern fallend, eilig den Parkplatz überquerend.
Izumi. Quelle, MĂĽndung, mehr.

© Margot Lamers-Zigan 2024-06-02

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Romane & Erzählungen
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