Es ist Oktober und Mia ist immer noch nicht hier. Oma Margarete geht es an manchen Tagen mal besser, mal schlechter, aber grundsätzlich eher immer schlechter und schlechter. Und ebenso Mia. Ich bin überfragt, weiß nicht, was ich tun soll. Das Portrait ist fast fertig, Mias Geburtstag bald da. Ich fahre zu ihr. Sie ist blass um die Nase. Blasser als sowieso schon. Oma Margarete liegt im Krankenhaus. Es sind stille Tage, in denen ich da bin und noch stillere Nächte. Manchmal weint Mia. An ihrem Geburtstag fahren wir in ein kleines Café im Dorf und essen Kuchen. Es ist nicht unser Café.
Mia bestellt Kaffee. Der sei so bitter wie ihr Leben. Ich bestelle Hagebuttentee, weil ich genau weiß, dass sie den Kaffee nicht anrühren wird. Mia schlürft ihren Hagebuttentee. Ich trinke den Kaffee. Mia möchte auch etwas in mein Skizzenbuch zeichnen. Die letzte Seite gehört ihr. Sie malt eine Katze. Simba. Ich male Simba daneben.
Zu Hause überreiche ich Mia ihr Geschenk, das Portrait. Sie ist entzückt, ihr Gesicht leuchtet. Das erste Mal in den letzten Tagen. Sie kommt zu mir und gibt mir einen Kuss, fällt mir in die Arme. „Es tut mir leid“, sagt sie leise. Ich streiche ihr über die Haare. „Das muss es nicht“, sage ich. Der Abschied fällt schwer. Mia bleibt noch eine Weile länger. Sie schiebt ihr Studium um ein Semester, macht ein wenig Pause. Ich mache umso mehr, um etwas mit der freien Zeit anzufangen, die da ist. Mia gibt ihr Zimmer auf, sie kann es nicht mehr bezahlen. Ich fahre zu ihrer Wohnung und bringe die wenigen Sachen, die sie noch dort hat zu mir. Dann überreiche ich der Vermieterin den Schlüssel.
Es ist kalt geworden. Mit einem schwarzen Skizzenbuch sitze ich in unserem Café und beobachte die Menschen. An einigen sonnigen Nachmittagen füllt sich die Stadt. Sonst bleibt die Straße recht leer. Eine alte Frau kommt herein und bestellt Hagebuttentee. Ich drehe mich zu ihr. Sie lächelt mir freundlich zu. Ich lächle zurück. Ich stelle mir vor, wie Mia in das Café eintritt, sehe sie vor mir. Ich sehe, wie sie ihre Jacke wegbringen geht, mir im Vorübergehen eine Kusshand zuwirft und hinter der Theke die Stellung bezieht. Dort blickt sie manchmal mit gerunzelten Brauen nachdenklich in die Luft oder begrüßt lächelnd neue Gäste. Ab und zu schenkt sie mir ein ganz besonderes Mia-Lächeln, das nur für mich bestimmt ist und ich lächle zurück. Aber Mia ist nicht da. Der Heimweg ist trist und Zuhause angekommen mache ich mir einen Tee und verbarrikadiere mich im Bett. Meine Füße frieren und ich öffne die Schublade mit den Socken. Ganz hinten liegen die hässlichen Socken von Mia, ihre ersten Strickversuche. Ich ziehe die Socken an. An mehreren Stellen stehen die Fäden hervor. Ich greife zum Telefon.
© Johanna Josepha Wagner 2022-08-11