von Lilly Frost
Mein Sohn war schon immer besonders. Als er klein war, wirkte er etwas langsam. Er saß stundenlang still und beobachtete seine Umgebung. Auch mit fast zehn Monaten machte er keine Anstalten, zu krabbeln.
Dass die scheinbare Lethargie meines Sohnes rein gar nichts mit einer verzögerten Entwicklung zutun hatte, merkte ich spätestens, als er plötzlich mit achtzehn Monaten in ganzen Sätzen zu sprechen begann. Kurz darauf erklärte er mir bei unseren Spaziergängen: „Mama, das ist ein Peugeot, ein Mercedes, ein Mazda, ein Audi…“. Ich war sprachlos.
Mein Sohn machte sich nicht viel aus Fernsehen, aber Werbung liebte er. Ich konnte mir das nicht recht erklären, bis wir eines Tages im Drogeriemarkt standen und mein Sohn mir zeigte: „Schau mal, Mama! Omo, Persil, Ariel…“.
Die ältere Dame neben mir schien fast aus den Latschen zu kippen. Ich wusste selbst nicht genau, woher er das hatte. Aus der Werbung vermutete ich. Irgendwann fing er an, mich nach den Buchstaben einzelner Worte zu fragen. Mit gut drei Jahren kam er eines Tages in seinem Pyjama zum Frühstücktisch, warf einen Blick auf die Zeitung, die sein Vater gerade las und bemerkte: „Ah, Salzburg verzeichnet Rekordnächtigungszahlen im Sommer.“
Mein damaliger Mann und ich starrten uns ungläubig an, hatte unser Sohn soeben die Schlagzeile vorgelesen. Mein Finger wanderte in die nächste Zeile. „Kannst du das lesen?“, fragte ich ihn.
„Sicher“, erwiderte er und las die nächsten Worte fehlerfrei vor.
Da war mir klar, warum mein Sohn uns Löcher in den Bauch fragte und stundenlang in Büchern blätterte. Er sog alle Informationen auf wie ein Schwamm. Dabei hatte er sich nicht nur das Lesen, sondern auch das Schreiben selbst beigebracht. Mit dem Stift klappte es zwar nicht so gut. Die Feinmotorik wollte nicht so recht, aber auf der Tastatur schrieb er praktisch fehlerfrei.
Als er in den Kindergarten kam, erwähnte ich beiläufig, dass mein Sohn bereits lesen und auch schreiben konnte. „Viele Kinder können ihren Namen schreiben und ein paar Buchstaben lesen. Das ist vollkommen normal“, erklärte mir die Kindergartenpädagogin.
Ein Jahr verging. Da passte mich die Kindergartenpädagogin ganz aufgeregt ab, als ich P. abholen wollte.
„Das werden Sie nicht glauben“, erzählte sie aufgeregt und zog mich in Richtung eines Raumes. Dort saß mein Sohn von rund zehn Kindern umringt auf dem Boden und las ein Märchen vor. Zwanzig Augenpaare waren auf ihn gerichtet und lauschten gebannt seinen Worten.
„Liest wie ein Weltmeister“, erklärte sie entzückt und klatschte dabei in die Hände.
„Nicht zu fassen“, entgegnete ich und musste lächeln.
Auf dem Heimweg erzählte mir P. von seinem Tag im Kindergarten.
„Das finde ich ganz toll, dass du den anderen vorgelesen hast“, lobte ich ihn.
P. grinste von einem Ohr zum anderen. „Ja, Mama. Das musste jetzt einfach sein“, erwiderte er. „Sonst hätte die Kindergartenleiterin nie geglaubt, dass ich schon lesen kann.“
© Lilly Frost 2020-05-31