Onkel Leander, Jurij Gagarin und ich

ratz

von ratz

Story

Auf dem Foto sind zwei Männer in Uniform zu sehen. Der Linke ist dem anderen Mann zugewandt, das gewellte Haar zurück gekämmt, ein schönes Profil, ein gewinnendes Lächeln. Der Andere ist deutlich größer und sieht mit einem wohlstandsgerundeten Gesicht in die Kamera. Auf der Rückseite hat mein Vater geschrieben: li. Gagarin, Jurij Aleksejewitsch, sowjetischer Fliegeroffizier und Astronaut, geb. 09.03.1934, gest. 27.03.1968 (Flugzeugabsturz), umkreiste am 12.04.1961 als erster Mensch die Erde in einer Wostok-Raumkapsel, re. Leander Ratz, geb. 1923 in Rafalowka/Wolhynien, gest. 1962 (Flugzeugabsturz), Oberst der DDR-Luftwaffe.

Das Foto habe ich in einem Karton mit Familienfotos meiner Eltern gefunden.

1961 oder 1962 sind die Beiden zusammengetroffen, mein Onkel Leander und Jurij Gagarin, Held der Sowjetunion zu Besuch in der Deutschen Demokratischen Republik.

Ich habe meinen Onkel Leander ein einziges Mal gesehen. Fünf Jahre war ich alt und zum ersten Mal in der DDR, die wir damals Ostzone nannten. Wir waren zu Besuch bei Erhard, dem anderen Bruder meines Vaters. Mir gefiel es dort. Die Wurst auf den Broten zum Abendessen war dicker geschnitten als bei uns zu Hause. Im Garten waren zwei Schafe angepflockt, die ich streichelte. Und an einem Abend, als es dunkel war, fuhr uns irgendwer im Auto irgendwohin in eine Wohnung, in der alle Vorhänge zugezogen waren. Irgendwann kam Leander Ratz, Kommandeur der Jagdfliegerschule Bautzen, um seinen Bruder Reinhard zu treffen, den es offiziell in seinem Leben nicht gab. Eine Karriere bei der NVA vertrug sich nicht mit einem Bruder im Westen. Mein Vater sah seinen Bruder zum ersten Mal seit dem Krieg. Ich erinnere mich an die zugezogenen Vorhänge, kaum an die Begegnung der Brüder, vage daran, dass sie laut und erregt waren und dass sie sich im Streit trennten. Etwas genauer erinnere ich mich an das, was hinterher in der Familie geredet wurde, wie schlimm das sei, dass sie nur politisiert hätten, über zehn Jahre nicht gesehen und dann das, kein persönliches, versöhnliches Wort!

Vier Jahre später stürzte Leander über Polen ab. Die Umstände dieses Unfalls blieben unklar – wie bei Juri Gagarin, über dessen Flugzeugabsturz jahrelang spekuliert wurde.

2002 reiste ich zum ersten Mal in die Heimat meines Vaters in der Ukraine. In Shitomir gibt es ein Weltraummuseum. Ich konnte mich dort in eine echte Weltraumkapsel setzen. Es war sehr eng darin. Juri Gagarin war nicht zufällig ein kleiner Mann.

© ratz 2022-02-21

Hashtags