Als Jugendliche liebte ich es, mich am Wochenende oder an besonders hohen Feiertagen wie Weihnachten oder Neujahr, bis zum folgenden Mittag in mein Bett zu kuscheln. Während draußen der eisige Wind blies, genoss ich meinen Dauerschlaf, bis zu 12 Stunden in meiner besten Zeit. Mein Vater war es, der uns beibrachte, wie erholsam und erbauend es ist zu schlafen, nachts aber auch schon mittags. Der Mittagsschlaf war ihm geradezu heilig. Die Möglichkeit zu solch einem ‚Nickerchen‘ wie mein Vater es nannte, bot ihm sein Beruf. Nach dem zweiten Weltkriegs nutzte er das Angebot der Regierung, in einer Art ‚Schnellstudium‘ Volksschullehrer zu werden. Wieder entschied er sich für die Naturwissenschaften, denn schon vor Kriegsbeginn hatte er sich als junger, fleißiger Student für das Studium der Chemie an der Universität eingeschrieben. Dieses konnte er schließlich, wenn auch unter ganz anderen Umständen und mit neuem Berufsziel, weiterführen. Bald bestand er sein Staatsexamen und durfte fortan in den Vormittagsstunden seiner Schülerschaft die besonderen explosiven Eigenschaften des Schwarzpulvers anschaulich vorführen. Verständlicherweise waren solche Experimentierstunden aufreibend für den Junglehrer und er machte es sich zur Gewohnheit, danach eine Ruhepause einzulegen. Diese Gewohnheit behielt er bei, auch als seine Familie größer geworden war und drei kleine Kinder durch die Wohnung wirbelten. Konnten wir Wetter bedingt nicht rausgehen, sorgte meine Mutter dafür, dass wir mucksmäuschenstill drinnen spielten, in maximaler Entfernung zum Wohnzimmer, soweit das unsere drei-Zimmer-Wohnung zuließ. Oberstes Gesetz war es, das Familienoberhaupt nicht beim Mittagsschlaf zu stören. Wohnzimmer, Fernseher sowie Lassie und Fury, die Stars der Kinderstunde wurden uns somit vorenthalten. Nach seinem ‚After-Job-Schlaf‘ musste mein Vater noch korrigieren, was er jedoch dank seines einfachen Zwei-Fehler-Intervallsystems (0 Fehler entsprach ’sehr gut‘, bis 2 Fehler ‚gut‘, bis 4 Fehler gab es ein ‚befriedigend‘ usw.) relativ schnell erledigte. Wehe dem armen, kleinen I-Dötzchen, das sich 6 Fehler leistete! Mit diesem Kind und auch mit uns war mein Vater streng und wenig kompromissbereit. Wir haben das respektiert und seine Rolle als Familienoberhaupt nie infrage gestellt. Aber zum Glück hatte mein Vater auch komische Seiten: So verfolgte er nach getaner Arbeit seine Tagesschau oder das politische Kabarett voller Hingabe. Noch vor Sendeschluss fielen ihm dabei die Augen zu. Erst meine Mutter oder das aufdringliche Sendeschluss-Piepen bewegten ihn dazu, sich bettfertig zu machen. Später, als dieses Signal abgeschafft wurde und die Sendungen bis zum frühen Morgen weiterliefen, verbrachte er oft die halbe Nacht schnarchend vor dem Fernsehgerät. Niemand war zu Hause, um ihn zu wecken. Nur sein Lieblingsenkel, mein ältester Sohn, kam oft am Wochenende. Wenn er seinen Opa mitten in der Nacht im großen Doppelbett vermisste, dann machte er sich auf in die untere Etage und rüttelte ihn sanft am Arm. „Komm Opa“, sagte er jedes Mal zum geliebten Großvater „du musst aufstehen und ins Bett gehen. Es ist Schlafenszeit!“
© Eva-Maria Fontaine 2024-09-25