Opa war kein Nazi

Maiglocke

von Maiglocke

Story

Opa war kein Nazi. Das hat mein Vater immer wieder und wieder gesagt. Schließlich war er ja kein Nazi. Warum er kein Nazi war? Das weiß ich nicht. Opa ist im Jahr 1905 in Deutschland geboren worden. Also war er ein erwachsener Mann, als die Nazis in Deutschland an die Macht gekommen sind. Er war wahlberechtigt. Was er wohl gewählt hat? Das weiß ich nicht. Was er von den Ansichten der Nazis, von ihrer Propaganda gehalten hat? Das weiß ich nicht. Wenn die Nazis ihre Paraden abgehalten haben, diese gruseligen, geisterhaften, riesigen Feste bei Nacht, war Opa dann da? Hat er mit den anderen zusammen den Arm zum Hitlergruß ausgestreckt, die Parolen mitgeschrien? Hat er der Propaganda geglaubt, die ihm ein mächtiges, germanisches Reich versprochen hat, Wohlstand für alle, Fortschritt und Schuldenfreiheit? Viele haben dieser Propaganda geglaubt, doch ob mein Opa einer dieser Vielen war, das weiß ich nicht. Und als dann schließlich der Krieg kam, da ist mein Opa eingezogen worden. Er ist für dieses Regime in den Kampf gezogen, hat seine Familie zurückgelassen, um in vorderster Front für die Ideen der Nazis in den Kampf zu ziehen. Viele Jahre ist er fort gewesen. Als einfacher Soldat, mit seinen Kameraden, in einem fremden Land, das sie unterwerfen sollten. Doch was er darüber gedacht hat? Das weiß ich nicht.

Während ich darüber nachdenke, gehe ich auf den Dachboden. Meine Mutter hat mich gebeten, meine alten Spielsachen auszusortieren. Als ich die Luke öffne, kommt mir ein Schwall staubiger Luft entgegen. Lange ist niemand mehr hier gewesen, die vielen Kisten sind unter Spinnweben, Staub und Vergessen begraben. Ich mache die nackte Glühbirne an, um den Dachboden zu erhellen und betrachte die vielen Kisten. Ob vielleicht etwas von Opa hier ist? Ich beginne zu suchen. Erst nur ein bisschen, dann immer energischer. Vielleicht kann etwas mir Antworten geben. Schließlich finde ich eine Kiste mit alten Briefen. Feldpostbriefe. Tatsächlich, sie sind von Opa.

Meine Liebste Gertrud,

Nun bin ich schon 2 Jahre an der Front und vermisse euch schmerzlichst. Der Krieg ist ein furchtbares Schauspiel, und ich fühle, dass wir nicht mehr als Sieger aus dieser Grausamkeit hervorgehen können. Es gibt im Krieg keine Sieger, nur Verlierer. So viele von meinen Kameraden sind schon gestorben, und ich möchte keinen Einzigen mehr verlieren. Kann uns dieser Krieg noch etwas Gutes bringen? Ich habe fest an die Sache geglaubt, als wir in den Kampf gezogen sind, und ich versuche diesen Glauben jeden Tag wiederzufinden. Vielleicht gelingt es mir, vielleicht auch nicht. Ich hoffe, dass wir uns wieder sehen.

In Liebe,

Dein Herbert

Nachdenklich starre ich den Brief an. War Opa nun ein Nazi oder nicht?

© Maiglocke 2024-09-02

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Herausfordernd, Dunkel, Reflektierend
Hashtags