Ordnung ist nur das halbe Leben

Eva-Maria Fontaine

von Eva-Maria Fontaine

Story

Es gibt nichts Schöneres, als in eine aufgeräumte Wohnung zu kommen, sagte meine kluge Freundin immer. Ich lernte sie auf einem Seminar kennen. Darin ging es um tiefgründige Themen wie z.B. den Sinn des Lebens. Wobei ich mir heute immer öfter die Frage stelle: ‚Gibt es überhaupt einen?‘ Einige Menschen sehen den Sinn ihres Lebens darin, Ordnung zu schaffen und zu halten. Warum auch nicht? So liebte ich es als kleines Mädchen aufzuräumen und Ordnung zu halten. Besonders in meinem Ranzen: Bücher, Hefte, Mäppchen und Butterbrotdose, alles hatte seinen festen Platz. Das kam mir im Unterricht zugute und ersparte mir langes Suchen und Kramen. Gerne wollte ich schon früh mein Talent in den Dienst der Familie stellen. Also knüpfte ich mir die kreative Nähecke mitsamt Nähmaschine meiner Mutter vor: diese stand in unserem Kinderzimmer links neben den Betten, direkt vor dem Fenster. Meist war ihre Singer-Maschine aufgeklappt. In der geöffneten Tür befand sich ein kleines Reservoir bunter Nähgarne und Spulen. Meine Mutter hatte oft keine Zeit, diese säuberlich im Kästchen zu ordnen, also übernahm ich das gerne für sie. Zuerst leerte ich alle Mini-Schubladen, reihte dann alle Spulen und Garnrollen nebeneinander auf den Tisch und begann, die verhedderten Enden zu entwirren. Hoffnungslos ineinander verwickelte Fäden trennte ich mit einem beherzten Schnitt, dann ging es weiter: fein säuberlich aufgewickelt, ordnete ich die Nähutensilien nach Farben, grünes, rotes, gelbes, weißes oder schwarzes Nähgarn, alles bekam wieder seinen festen Platz im mütterlichen Nähkästchen. Wenn ich fertig war und mir noch Zeit blieb bis zum Abendessen, machte ich mich an die Buchführung. Denn für meine Mutter war das Nähen nicht nur Hobby, sondern vor allem ein Zusatzverdienst. Ein ansehnlicher weiblicher Kundenstamm aus dem Dorf besuchte ihr Atelier in unserem Kinderzimmer regelmäßig, ließ sich Röcke, Kleider oder Mäntel, seltener Hosen von ihr kürzen, enger nähen usw. Natürlich gegen Bezahlung. Und da es meiner Mutter wichtiger war, zufriedene Nähkundinnen zu haben als ein gut gefülltes Portemonnaie, übernahm ich kurzerhand den Job der Geschäftsführerin. Mit ihrer Zustimmung setzte ich die Preise für ihre Dienstleistungen fest: Kürzen 3 DM, Kleid enger nähen 5 DM, alles schrieb ich in einer Liste, geordnet nach Preisen und Schwierigkeitsgrad der Leistung säuberlich auf den Heftumschlag. Die Heftseiten versah ich mit Spalten und Überschriften ‚Näharbeit‘, ‚Betrag‘ ‚Bezahlt am‘ ‚Offen seit dem‘. Fleißig kümmerte ich mich darum, dass meine Mutter den ihr zustehenden Lohn bekam und scheute mich nicht davor, säumigen Kunden einen höflichen Besuch abzustatten. Und so wurden wir ein tolles Team: kreatives Chaos und Ordnung, zwei wunderbare, sinnerfüllte Hälften einer schönen Mutter-Tochter Beziehung.

© Eva-Maria Fontaine 2025-06-22

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional